Vergiss die Diagramme: Wie du mit deinen eigenen Händen den Sinn im Leben findest

von Mareike Brenner
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In meiner Werkstatt riecht es nach Holz, nach Öl und, ganz ehrlich, nach ehrlicher Arbeit. Seit über 30 Jahren stehe ich hier zwischen Sägeböcken und Maschinen. Ich habe junge Leute ausgebildet und zugesehen, wie aus ihnen gestandene Profis wurden. Viele von ihnen kamen anfangs nicht nur zu mir, um ein Handwerk zu lernen. Sie suchten etwas, das man mit Geld nicht kaufen kann: einen Sinn in dem, was sie mit ihren Händen erschaffen.

Vor einiger Zeit kam einer meiner Lehrlinge auf mich zu. Er hatte von diesem japanischen Wort gehört: Ikigai. Er zeigte mir ein Bild mit vier Kreisen, die sich überschneiden. „Meister“, fragte er, „ist das, was wir hier machen, mein Ikigai?“ Ich musste schmunzeln. Nicht über ihn, sondern darüber, wie wir im Westen versuchen, so eine tiefe Sache in ein einfaches Schaubild zu pressen. Das ist, als wollte man die Statik eines Dachstuhls auf einer Serviette erklären. Geht irgendwie, aber die Hälfte fehlt.

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Dieses Gespräch hat mich aber zum Nachdenken gebracht. Ikigai ist kein Modewort. Es ist eine Haltung, die ich im Handwerk jeden Tag lebe, ohne ihr einen fremden Namen zu geben. Es ist der Grund, warum ich morgens um sechs aufstehe, auch wenn die Knochen manchmal zwicken. Es ist einfach mehr als nur Arbeit. Es ist das Gefühl, am richtigen Platz zu sein.

Was Ikigai wirklich bedeutet – Ein Blick aus der Werkstatt

Wenn man das Wort mal auseinandernimmt, wird’s klarer. „Iki“ steht für Leben. „Gai“ für Wert oder Nutzen. Es geht also um den „Wert des Lebens“ oder einfacher gesagt: „Wofür es sich zu leben lohnt.“ Das hat jeder von uns in sich. Die Japaner sagen, man muss es nur entdecken. Und das findest du ganz sicher nicht in einem Wochenendseminar.

Das berühmte Diagramm mit den vier Kreisen – was du liebst, was du gut kannst, was die Welt braucht und wofür du bezahlt wirst – ist übrigens eine westliche Vereinfachung. Die Gefahr dabei? Man denkt, Ikigai sei nur dieser winzige Punkt in der Mitte, wo sich alles perfekt trifft. Aber so funktioniert das Leben nicht. Und das Handwerk schon gar nicht.

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Stell dir einen Tischler vor. Er liebt vielleicht das Arbeiten mit duftendem Zirbenholz, aber die Welt braucht gerade robuste Eichentische. Er ist vielleicht ein Meister im Schnitzen, aber bezahlt wird er für solide Rahmenkonstruktionen. Sein Ikigai liegt nicht nur im Schnitzen. Es liegt in der gesamten Tätigkeit: im Geruch der Werkstatt, im Gespräch mit dem Kunden, im Stolz auf den fertigen Tisch und im Wissen, dass seine Arbeit die nächsten Jahrzehnte überdauert. Ikigai ist das ganze Bild, nicht nur ein kleiner Ausschnitt.

Im Deutschen haben wir das Wort „Berufung“. Das kommt der Sache schon näher, denn eine Berufung ist mehr als ein Job. Doch Ikigai geht noch tiefer. Es schließt auch die kleinen Dinge mit ein: die morgendliche Tasse Kaffee in Ruhe, die Pflege des eigenen Gartens oder das Helfen im örtlichen Verein. Es ist die Summe der Dinge, die dem Tag einen Wert geben.

Die vier Säulen – Mehr als nur Kreise auf Papier

Auch wenn das Vier-Kreise-Modell unvollständig ist, können wir seine Teile als Stützen für eine gute Werkbank betrachten. Jede Säule muss stabil sein, damit die Arbeitsplatte am Ende nicht wackelt.

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1. Was du liebst: Das Feuer im Herzen

Das ist die Leidenschaft. Im Handwerk nennen wir das „das Feuer“. Du musst für deine Arbeit brennen. Ich sehe es in den Augen meiner Lehrlinge, wenn sie zum ersten Mal eine perfekte Schwalbenschwanzverbindung (eine klassische, sehr stabile Eckverbindung, die aussieht wie ineinandergreifende Schwalbenschwänze) von Hand herstellen. Dieser Glanz, dieser Stolz. Den kannst du nicht erzwingen.

Ich erinnere mich an einen Auftrag für eine alte Kirche. Wir sollten eine geschnitzte Tür restaurieren. Die Bezahlung war nicht üppig, der Aufwand riesig. Aber die Arbeit an diesem jahrhundertealten Eichenholz, die alten Techniken wiederzuentdecken – das war pure Freude. Manchmal sind es genau diese Projekte, die einen daran erinnern, warum man sein Handwerk liebt.

2. Was du gut kannst: Die Meisterschaft der Hände

Liebe allein reicht nicht. Du musst dein Handwerk auch beherrschen. Das bedeutet Übung, Disziplin und die Bereitschaft, ein Leben lang zu lernen. „Lehrjahre sind keine Herrenjahre“, sagt ein altes Sprichwort. Und es stimmt. Man muss durch Frust, durch Fehler, durch Wiederholungen. Nur so entsteht Meisterschaft.

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Klar, Qualität ist messbar. Eine Verbindung muss bestimmten Normen entsprechen, eine Oberfläche eine definierte Rauheit haben. Das sind die Fakten. Aber wahre Meisterschaft geht darüber hinaus. Es ist das Gefühl für das Holz. Ich kann an der Art, wie das Sägeblatt singt, hören, ob der Schnitt sauber wird. Ich spüre mit den Fingerspitzen, ob eine Oberfläche bereit zum Ölen ist. Dieses Wissen steht in keinem Lehrbuch. Das erwirbst du über Jahrzehnte in der Werkstatt.

3. Was die Welt braucht: Der Nutzen für andere

Ein schönes Möbelstück, das niemandem dient, ist nur Kunst. Ein Handwerker schafft Gebrauchsgüter. Unsere Arbeit muss einen Zweck erfüllen. Ein Stuhl muss bequem sein, ein Dach muss dicht halten, eine Treppe muss sicher sein. Darin liegt ein tiefer Sinn. Wir schaffen etwas, das den Alltag von Menschen besser, sicherer oder schöner macht.

Ein junger Architekt kam mal zu mir. Er wollte einen Tisch, der „eine Geschichte erzählt“. Wir haben zusammen Holz aus dem Wald seines Großvaters ausgesucht, eine umgestürzte Eiche. Der fertige Tisch war mehr als ein Möbelstück. Er war ein Erbstück. Das ist es, was die Welt braucht: Dinge mit Bedeutung, die nicht nach zwei Jahren auf dem Müll landen.

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4. Wofür du bezahlt wirst: Das Fundament der Existenz

Romantik ist schön und gut, aber am Ende des Monats müssen die Rechnungen bezahlt werden. Ein Handwerksbetrieb ist ein Unternehmen. Du musst kalkulieren können und von deiner Arbeit leben können. Das hat nichts mit Gier zu tun, sondern mit Professionalität. Qualität hat ihren Preis, und das ist auch gut so.

Ich sage meinen Leuten immer: „Eure Arbeit ist wertvoll. Verkauft sie nicht unter Preis.“ Wer gute Qualität liefert, darf dafür auch einen fairen Lohn verlangen. Das ist ein Zeichen von Respekt vor dem eigenen Können und vor dem Kunden, der ein langlebiges Produkt erhält.

Dein Weg zum eigenen Ikigai – Eine praktische Anleitung

Wie findest du nun deinen Weg? Kleiner Tipp: Man setzt sich nicht an einem Sonntagnachmittag hin und „findet“ sein Ikigai. Man arbeitet sich dorthin vor, Schritt für Schritt, wie bei einem großen Bauprojekt.

Schritt 1: Die Bestandsaufnahme

Räum deine innere Werkstatt auf. Hier ist eine kleine Challenge für dich: Nimm dir HEUTE ABEND 15 Minuten Zeit. Handy aus. Schnapp dir ein leeres Notizbuch und schreib ohne nachzudenken auf:

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  • Welche Tätigkeiten haben dir als Kind Freude gemacht? Bauen, zeichnen, reparieren?
  • Bei welchen Aufgaben vergisst du die Zeit?
  • Wofür bitten andere dich um Hilfe? Was kannst du anscheinend gut?
  • Welche Probleme in deiner Umgebung ärgern dich? Gibt es etwas, das du besser machen könntest?

Sei ehrlich. Es geht nicht um einen perfekten Plan, sondern darum, das Material zu sichten, das schon da ist. Du wirst staunen, was da wieder hochkommt.

Schritt 2: Mit Mini-Projekten anfangen

Der größte Fehler ist, alles auf eine Karte zu setzen. Kündige nicht deinen Job, um Schreiner zu werden, wenn du noch nie einen Hobel in der Hand hattest! Fang im Kleinen an. Richte dir eine Ecke im Keller ein. Fang nicht mit einem Schrank an. Versuch’s mal hiermit für den Anfang:

  • Ein altes Holzschneidebrett: Schleif es komplett ab und öle es neu ein. Dauert vielleicht eine Stunde und das Ergebnis siehst du sofort.
  • Ein simples Schlüsselbrett: Nimm ein Stück Restholz, bohre drei Löcher, schraube drei Haken rein. Fertig.
  • Ein wackeliger Stuhl: Finde die lose Verbindung, kratze den alten Leim ab und verleime die Lehne neu. Ein unbezahlbares Erfolgserlebnis!

Finde heraus, ob die Leidenschaft auch dann noch da ist, wenn du dir den Daumen klemmst oder ein Brett falsch zusägst. Scheitern gehört dazu.

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Dein erster Werkzeugkasten für unter 150 Euro

Achtung, du brauchst am Anfang keine teuren Maschinen! Ein solides Grund-Set reicht völlig. Hier ist, was ich empfehle, das kriegst du oft günstig auf Kleinanzeigen oder bei den Hausmarken im Baumarkt:

  • Eine japanische Zugsäge (Ryoba oder Kataba): Unglaublich präzise und leichter zu handhaben als europäische Sägen. (ca. 25-40€)
  • Ein paar gute Stechbeitel: Ein Set mit 3-4 Breiten reicht. Gebraucht oft ein Schnäppchen! (Set ca. 20-50€)
  • Ein Kombinationswinkel: Zum Anzeichnen von 90- und 45-Grad-Winkeln. Absolut unverzichtbar. (ca. 15-25€)
  • Ein paar Schraubzwingen: Du kannst nie genug davon haben, aber zwei gute, mittelgroße sind ein Start. (Stück ca. 10-20€)
  • Schleifpapier und Holzleim: Der Kleinkram. (zusammen ca. 15€)

Mehr brauchst du für die ersten Projekte wirklich nicht. Investiere lieber später in Qualität, wenn du weißt, was du wirklich brauchst.

Schritt 3: Einen Mentor finden (aber richtig!)

Man kann sich vieles selbst beibringen (schau mal auf YouTube nach Kanälen zum Thema Holzwerken für Anfänger!), aber nichts ersetzt die Anleitung durch einen erfahrenen Menschen. Aber wie spricht man den alten Schreinermeister im Ort an, ohne als Spinner dazustehen? Geh nicht hin und frag: „Kannst du mir alles beibringen?“. Das ist zu viel verlangt. Geh mit einer konkreten, kleinen Frage hin: „Entschuldigen Sie, ich versuche gerade, eine simple Holzverbindung zu lernen, aber ich scheitere immer an X. Hätten Sie vielleicht zwei Minuten für einen Tipp?“ Das zeigt Respekt und Eigeninitiative. Die meisten Handwerker teilen ihr Wissen gerne, wenn sie sehen, dass jemand wirklich lernen will.

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Schritt 4: Geduld haben

Gutes Holz muss langsam trocknen, sonst reißt es. Ein guter Handwerker muss langsam reifen. Es gibt keine Abkürzungen. Die Suche nach Sinn ist keine Autobahn, sondern ein gewundener Feldweg. Wichtig ist, in Bewegung zu bleiben.

Stolpersteine und Gefahren – Worauf du achten musst

Als Meister habe ich die Pflicht, auch auf die Gefahren hinzuweisen. Sicherheit geht immer vor, im Leben wie in der Werkstatt.

  • Die Leidenschafts-Falle: Nicht jede Leidenschaft muss zum Beruf werden. Manchmal zerstört der Druck, damit Geld verdienen zu müssen, die ganze Freude. Es ist absolut in Ordnung, einen soliden Brotjob zu haben und sein Ikigai im Hobby zu finden.
  • Die Gefahr des Ausbrennens (Burnout): Wer für seine Arbeit brennt, läuft Gefahr, zu verbrennen. Ich habe Kollegen gesehen, die 70-Stunden-Wochen geschoben haben, weil sie es so liebten. Irgendwann streikt der Körper. Pausen sind genauso wichtig wie die Arbeit selbst. Dein Körper und dein Geist sind dein wichtigstes Werkzeug. Pflege sie!
  • Der Mythos der ständigen Freude: Kein Job macht jeden Tag Spaß. Auch ich habe Tage, da nerven mich schwierige Kunden oder streikende Maschinen. Ikigai bedeutet nicht, jeden Morgen jubelnd aus dem Bett zu springen. Es bedeutet, dass du auch an den miesen Tagen einen übergeordneten Sinn siehst, der dich weitermachen lässt.
  • Die finanzielle Realität: Seien wir ehrlich: Nicht jede Leidenschaft lässt sich vergolden. Ein erfülltes Leben ist nicht zwangsläufig ein reiches Leben. Du musst deine Miete zahlen und deine Familie ernähren können. Das ist die Basis.
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Ein letztes Wort aus der Werkstatt

Ikigai ist kein Ziel, das man irgendwann erreicht. Es ist eher wie ein gut ausbalanciertes Handwerkzeug. Du nimmst es jeden Tag in die Hand, du arbeitest damit, du pflegst es. Mit der Zeit wird es zu einem Teil von dir selbst.

Also, schau nicht auf komplizierte Diagramme. Schau auf deine Hände. Schau auf das, was du tust. Finde die kleinen Momente des Stolzes, der Freude und des Nutzens. In der Summe dieser Momente, im Geruch des Holzes, im Klang der Werkzeuge und im Anblick eines fertigen Werkstücks – genau dort, mitten im Leben, findest du das, was die Japaner Ikigai nennen. Es war schon immer da.

Bildergalerie

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Mehr als nur Material: Die Seele des Holzes

Zirbe: Sie zu bearbeiten ist fast wie eine Meditation. Das Holz ist weich, nachgiebig, und der Duft, der die Werkstatt mit ätherischen Ölen füllt, beruhigt den Geist. Jedes Stück fühlt sich an wie ein persönliches Gespräch. Es ist das Holz für Herzensprojekte, der direkte Ausdruck von Leidenschaft.

Eiche: Sie fordert Respekt. Hart, widerstandsfähig und kompromisslos verlangt sie Kraft und präzise Führung der Maschinen. Hier geht es um Beständigkeit, um Funktion, um das Erschaffen von etwas, das Generationen überdauert. Es ist die Arbeit, die das Fundament legt.

Der wahre Meister findet seine Erfüllung nicht nur im einen oder anderen, sondern im Tanz zwischen beiden. Darin liegt die Tiefe des Handwerks.

Mareike Brenner

Mareike ist 1991 in Bonn geboren und hat ihr Diplom in der Fachrichtung Journalistik an der TU Dortmund erworben. Sie hat einen Hintergrund im Bereich Design, da sie an der HAW Hamburg Illustration studiert hat. Mareike hat aber einen Sprung in die Welt des Journalismus gemacht, weil sie schon immer eine Leidenschaft für kreatives Schreiben hatte. Derzeit ist sie in der Redaktion von Freshideen tätig und schreibt gern Berichte über Schönheitstrends, Mode und Unterhaltung. Sie kennt übrigens alle Diäten und das Thema „Gesund abnehmen“ wird von ihr oft bevorzugt. In ihrer Freizeit kann man sie beim Kaffeetrinken mit Freunden antreffen oder sie bleibt zu Hause und zeichnet. Neulich hat sie eine neue Leidenschaft entdeckt, und das ist Online-Shopping.