Celentanos Werkstatt: Warum dieser italienische Meister mehr als nur Klamauk ist
Ich kann mich noch lebhaft an diese Abende erinnern, als wir Lehrlinge nach einem langen Arbeitstag zusammensaßen. Im Hintergrund dudelte meistens irgendein Radio. Doch eines Tages legte ein Kollege eine Platte auf, die alles veränderte. Da war dieser raue Gesang, ein Rhythmus, der irgendwie schräg und absolut magnetisch war. Es war Musik von diesem einen, berühmten Italiener. Für die meisten war er nur der lustige Typ aus den alten Filmen im Nachmittagsprogramm. Für mich war das der Startschuss für eine echte Faszination. Ich wollte unbedingt wissen, was hinter dieser verrückten Fassade steckt.
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Und, ganz ehrlich, das war der Beginn einer langen Reise in das Werk eines Mannes, der so viel mehr ist als nur ein Sänger oder Schauspieler. Er ist ein echter Handwerker der Kultur, ein Phänomen, das man nicht so einfach in eine Schublade stecken kann.
Er ist Sänger, Komiker, Schauspieler, Regisseur und Gesellschaftskritiker – oft alles in einem einzigen Moment. Um seine Kunst wirklich zu verstehen, muss man sich mal seine Werkzeuge ansehen. Genau das will ich heute mit dir tun. Wir werfen einen Blick in seine Werkstatt und schauen uns nicht nur an, was er gemacht hat, sondern vor allem, wie und warum.

Die Basis: Italien im Aufbruch
Um diesen Künstler zu begreifen, müssen wir kurz in die Zeit eintauchen, die ihn geprägt hat. Stell dir das Italien der Nachkriegszeit vor: ein Land im Umbruch, mitten im Wirtschaftswunder. Mit dem neuen Wohlstand kamen auch ganz neue Einflüsse aus Amerika, allen voran der Rock’n’Roll. Für die Jugend war das wie eine Befreiung, eine echte Rebellion gegen die steifen Traditionen der Elterngeneration.
In dieser aufgeladenen Atmosphäre trat eine neue Art von Sängern auf die Bühne, die man die „urlatori“ nannte – die Schreier. Sie sangen nicht mehr die sanften, melodischen Lieder von früher, sondern schrien ihre Energie und ihr Lebensgefühl förmlich heraus. Er war einer von ihnen, aber irgendwie anders. Er brachte nicht nur die Musik, sondern auch eine völlig neue Körperlichkeit mit. Man nannte ihn den „Molleggiato“, den Gefederten. Sein federnder, fast schon ungelenker Tanz war damals einzigartig. Er wirkte wie ein Fremdkörper auf der Bühne, und genau das war sein Plan.

Das musikalische Handwerk
Sein musikalisches Werk ist riesig und reicht von simplen Rock’n’Roll-Nummern bis zu komplexen Konzeptalben. Aber es gibt ein paar Techniken, die immer wieder auftauchen und seine unverwechselbare Handschrift sind.
Die Stimme als Werkzeug
Seine Stimme ist nicht im klassischen Sinne schön. Sie ist rau, manchmal brüchig, und oft singt er absichtlich ein bisschen neben dem Ton. Für ihn war die Stimme nie nur ein Instrument für perfekte Melodien. Sie war ein Werkzeug, um eine Geschichte zu erzählen. Er setzt sie ein wie ein Schauspieler: mal flüsternd, mal schreiend, mal murmelnd. Manchmal klingt es fast so, als würde er sich über das Singen selbst lustig machen. Dieser Stil, eine Art Sprechgesang, war damals revolutionär und hat Generationen von italienischen Liedermachern, den sogenannten „cantautori“, beeinflusst.
Der Song als Kommentar: „Il ragazzo della via Gluck“
Ein perfektes Beispiel für seine Methode ist das Lied über den Jungen aus der Via Gluck. Auf den ersten Blick eine simple, fast melancholische Geschichte: Ein Junge muss sein Zuhause in einem grünen Vorort verlassen und findet bei seiner Rückkehr nur noch Betonwüsten vor. Aber das Lied ist so viel mehr. Es ist einer der ersten großen Protestsongs gegen Umweltzerstörung und blinde Urbanisierung in der Popmusik. Der Künstler, der selbst in dieser Straße aufwuchs, verarbeitete hier seine eigene Biografie und machte daraus ein universelles Thema. Das Lied wurde beim berühmten Sanremo-Festival zuerst rausgeworfen – das Publikum war wohl noch nicht bereit. Kurz darauf wurde es aber ein Welthit. Das zeigt, wie oft er seiner Zeit voraus war.

Das sprachliche Experiment: „Prisencolinensinainciusol“
Einige Jahre später veröffentlichte er einen Song, der bis heute für Verblüffung sorgt. Der Titel: „Prisencolinensinainciusol“. Der Clou daran? Der gesamte Text besteht aus Fantasiewörtern, die irgendwie amerikanisch klingen, aber absolut nichts bedeuten. Ich hab oft mit Freunden darüber gerätselt, was er damit bezwecken wollte. Heute ist klar: Es ist ein geniales Stück Medienkritik. Er spürte, wie die englische Sprache die Popkultur dominierte und viele Menschen, besonders in Italien, einfach ausschloss. Das Lied macht dieses Gefühl des Nicht-Verstehens, die „Incommunicabilità“, direkt hörbar.
Musikalisch war das Stück mit seinem repetitiven Beat und dem Sprechgesang seiner Zeit ebenfalls weit voraus und gilt heute als einer der ersten Vorläufer des Rap. Übrigens, kleiner Fun Fact: Wusstest du, dass er ursprünglich eine Ausbildung zum Uhrmacher gemacht hat? Diese handwerkliche Präzision, dieses Interesse für Mechanik, merkt man seiner Kunst an. Er zerlegt Medien und Musik in ihre Einzelteile und setzt sie völlig neu zusammen.

Der Körper als Leinwand: Die Filmkarriere
Seine Filmkarriere ist mindestens genauso wichtig wie seine Musik. Auch hier hat er einen ganz eigenen Stil entwickelt. Er spielte oft ähnliche Charaktere: mürrische, wortkarge Außenseiter, die aber einen Kern aus Gold haben. Die wahre Kunst lag aber in seiner unglaublichen Körperlichkeit.
Der „Molleggiato“ auf der Leinwand
Sein Markenzeichen, dieser federnde Gang, war kein Zufall, sondern eine bis ins Detail einstudierte Performance. Seine Bewegungen erinnern an die großen Meister der Stummfilm-Ära. Wie sie nutzte er seinen Körper, um Komik zu erzeugen, oft ohne ein einziges Wort zu sagen. Sein Gesicht blieb dabei meist ausdruckslos, fast steinern, während sein Körper eine ganz eigene Geschichte erzählte. Dieser Kontrast ist einfach urkomisch und eine Technik, die man in Filmen wie „Der große Bluff“ in Perfektion sehen kann.
Lachen mit bitterem Nachgeschmack: Die „Commedia all’italiana“
Seine erfolgreichsten Filme gehören meist zur „Commedia all’italiana“. Das ist wichtig zu wissen, denn dieses Genre ist eben nicht nur purer Klamauk. Es sind Komödien mit einem tiefen, gesellschaftskritischen Unterton, die oft die Schwächen der italienischen Gesellschaft aufdecken. Nehmen wir „Der gezähmte Widerspenstige“: Vordergründig eine Rom-Com, in der er einen reichen, frauenfeindlichen Landwirt spielt. Gleichzeitig ist der Film aber auch eine Satire auf Macho-Gehabe und überholte Geschlechterrollen. Das Lachen bleibt einem da manchmal im Hals stecken. Aus heutiger Sicht ist der Humor oft schwierig, aber dazu gleich mehr.

Dein Wegweiser: Wie du seine Welt heute entdeckst
Für Neulinge kann sein riesiges Werk echt überwältigend sein. Wo soll man da anfangen? Keine Sorge, ich hab da mal einen kleinen Fahrplan für dich zusammengestellt.
Für Film-Einsteiger: Fang am besten mit einer seiner zugänglicheren Komödien an. „Bingo Bongo“ ist eine gute Wahl. Er spielt einen Affenmenschen, der in die Zivilisation kommt – total albern, aber es zeigt seine körperliche Komik in Reinform. Danach kannst du dich an den Klassiker „Der gezähmte Widerspenstige“ wagen. Kleiner Tipp für die ganz Eiligen: Such auf YouTube einfach mal nach der Traubenstampf-Szene aus dem Film. Das sind 5 Minuten pure Essenz seiner Kunst!
Für Musik-Einsteiger: Schnapp dir ein „Best of“-Album seiner frühen Jahre. Lieder wie „24.000 baci“ (24.000 Küsse) geben dir ein super Gefühl für seine Rock’n’Roll-Energie. Danach ist „Azzurro“ Pflicht, ein Song, den ein anderer berühmter italienischer Songwriter für ihn schrieb – die perfekte Mischung aus Melancholie und Leichtigkeit.

Wo finde ich das alles? Gute Frage! Seine Filme tauchen immer mal wieder bei Streaming-Diensten wie Netflix oder Amazon Prime auf, aber das Angebot wechselt ständig. Ein echter Profi-Tipp: Die beste und günstigste Quelle sind gebrauchte DVDs. Schau einfach mal auf Medimops, Rebuy oder eBay, da findest du die Klassiker oft schon für 3 bis 7 Euro. Seine Musik? Die findest du komplett auf Spotify, Apple Music und natürlich auf YouTube – dort gibt es auch die legendären Musikvideos. Unbedingt das Video zu „Prisencolinensinainciusol“ ansehen, seine Performance dort ist die halbe Miete!
Fordere dich selbst heraus: Hör dir den Song mal an und schreib in die Kommentare, was du gefühlt hast, ohne auch nur ein Wort zu verstehen. Ich bin gespannt!
Achtung: Ein paar kritische Anmerkungen
Als Fan muss man aber auch ehrlich sein. Man darf sein Werk nicht unkritisch abfeiern. Es gibt Aspekte, die heute schwer zu akzeptieren sind.

Veralteter Humor: Viele seiner Komödien aus den 70er und 80er Jahren sind aus heutiger Sicht schlicht sexistisch. Die Darstellung von Frauen ist oft problematisch, wie zum Beispiel die ganze Dynamik in „Der gezähmte Widerspenstige“, wo die weibliche Hauptfigur quasi so lange „bearbeitet“ wird, bis sie sich dem mürrischen Mann fügt. Das war damals im italienischen Kino leider oft so. Man kann diese Filme als Zeitdokumente analysieren, aber man muss das nicht gutheißen.
Die Gefahr der Vereinfachung: Der größte Fehler wäre, ihn als reinen Clown oder „Klamauk-Italiener“ abzutun. Seine alberne Fassade ist oft nur Tarnung. Dahinter stecken scharfe Beobachtungen und eine tiefe Menschlichkeit. Wer nur über ihn lacht, hat ihn nicht wirklich verstanden.
Das Geheimnis seiner Freiheit: Der eigene Clan
Ein letzter, aber entscheidender Punkt ist seine Unabhängigkeit. Schon sehr früh in seiner Karriere gründete er mit seiner Frau, die auch seine geniale Managerin war, den „Clan“. Das war Plattenlabel, Filmproduktion und Management in einem. Diese Struktur verschaffte ihm eine unglaubliche kreative Freiheit. Er war nicht von großen Studiobossen abhängig und konnte seine verrücktesten Ideen umsetzen – ohne diese Basis gäbe es den Künstler, wie wir ihn kennen, vermutlich nicht.

Auch im hohen Alter ist seine Wirkung ungebrochen. Sein Werk ist wie eine gut sortierte Werkstatt: Man kann immer wieder reingehen und neue Werkzeuge, neue Pläne und neue Ideen entdecken. Er hat uns gezeigt, dass man mit Lärm auf Stille aufmerksam machen kann und dass man manchmal eine Fantasiesprache braucht, um die Wahrheit zu sagen. Und wenn dir sein Stil gefällt, hör doch mal bei anderen großen italienischen „cantautori“ wie Lucio Dalla oder Rino Gaetano rein – auch sie waren Meister des kritischen und poetischen Songs. Das ist echtes Handwerk, das Respekt verdient.
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Was soll eigentlich „Prisencolinensinainciusol“ bedeuten?
Es bedeutet absolut nichts – und genau das ist der Punkt. 1972 schuf Celentano diesen Song, der phonetisch wie amerikanisches Englisch klingt, aber reines Kauderwelsch ist. Es war sein genialer Kommentar zur Sprachlosigkeit und zur Faszination Italiens für alles Amerikanische. Er wollte das Gefühl der Inkommunikabilität vertonen. Das Stück, ein früher Rap-Prototyp, wurde Jahrzehnte später dank des Internets zum viralen Hit und bewies, dass Celentanos Kunst zeitlos ist.

- Die ironische Gesellschaftskritik in den Texten von Jovanotti.
- Die energiegeladene, fast theatralische Bühnenpräsenz von Rockern wie Gianna Nannini.
- Die spielerische Provokation, die man bei vielen jüngeren Italo-Pop-Acts findet.
Das gemeinsame Erbe? Celentano legte den Grundstein für Künstler, die sich trauten, mehr als nur Sänger zu sein. Er zeigte, dass man Haltung, Humor und große Hits verbinden kann.

Mit über 150 Millionen verkauften Tonträgern ist er einer der kommerziell erfolgreichsten Künstler in der Geschichte Italiens.
Diese Zahl ist mehr als nur ein Verkaufsrekord. Sie ist der Beweis für seine einzigartige Fähigkeit, über Generationen hinweg relevant zu bleiben. Von den Rock’n’Roll-Rebellen der 60er über die Kinogänger der 80er bis hin zu den YouTube-Nutzern von heute – Celentano hat es immer wieder geschafft, den Nerv der Zeit zu treffen, ohne sich je anzubiedern.

Der „Molleggiato“-Effekt: Es war mehr als nur ein Tanz. Wenn Celentano sich auf der Bühne bewegte, war das kontrolliertes Chaos. Eine Mischung aus der Lässigkeit von Elvis Presley und der fast tollpatschigen Körperkomik eines Jerry Lewis. Dieser federnde, unvorhersehbare Stil war ein physischer Protest gegen die steife, gesittete Unterhaltung der Elterngeneration. Er tanzte nicht zur Musik, er *war* die Musik – ungestüm, rau und voller Energie.

Eine Leinwand-Chemie, die Funken schlug: Obwohl er mit vielen Stars drehte, bleibt die Verbindung mit Ornella Muti unvergessen. In Filmen wie Der gezähmte Widerspenstige oder Gib dem Affen Zucker verkörperten sie das perfekte Gegenteil: Er der raue, ungeschliffene Landwirt, sie die elegante, weltgewandte Schönheit aus der Stadt. Ihr Zusammenspiel lebte von dieser Spannung und schuf einige der kultigsten Momente des italienischen Kinos der 80er Jahre.

„Ich habe immer versucht, Dinge zu tun, die sonst niemand macht. Nicht um zu provozieren, sondern weil es mich langweilt, den ausgetretenen Pfaden zu folgen.“

Lange bevor Umweltschutz zum globalen Thema wurde, sang Celentano schon davon. Sein Hit „Il ragazzo della via Gluck“ von 1966 ist ein frühes Meisterwerk der Sozialkritik.
- Die Geschichte: Ein Junge erzählt wehmütig von seinem Zuhause am Stadtrand, wo früher Gras wuchs.
- Die Kritik: Er prangert die Zersiedelung und den Beton an, der die Natur verdrängt. Der Refrain „là dove c’era l’erba ora c’è una città“ (dort, wo Gras war, ist jetzt eine Stadt) wurde in Italien zum geflügelten Wort.
Celentano für einen Abend: So gelingt die perfekte Italo-Filmnacht
- Die Filmauswahl: Für Lachtränen sorgt Gib dem Affen Zucker. Wer es künstlerisch-verrückt mag, wählt Celentanos Kult-Regiearbeit Yuppi du.
- Der Soundtrack: Eine Playlist ist Pflicht! Starten Sie mit „24.000 baci“, steigern Sie sich mit „Azzurro“ und kühlen Sie mit „Soli“ wieder ab.
- Das Ambiente: Vergessen Sie die karierte Tischdecke. Denken Sie rustikal: ein guter Chianti, einfaches Brot mit Olivenöl, Salami und Käse – so hätte es Celentanos Filmfigur Elia wahrscheinlich auch gemocht.




