Die geheime Superkraft deines Kindes? Atmen! So klappt’s im echten Leben.
Ganz ehrlich? Nach unzähligen Jahren im Kita-Alltag dachte ich, ich hätte alles gesehen. Lachende Kinder, die sich im nächsten Moment wegen eines umgefallenen Turms in kleine Wutmonster verwandeln. Die kleinen Dramen des Lebens halt. Meine erste Reaktion war früher immer: schlichten, trösten, ablenken. Das klappt auch, irgendwie. Aber irgendwann habe ich gemerkt, dass es einen viel besseren Weg gibt – einen, der den Kindern eine Art Fernbedienung für ihre eigenen Gefühle in die Hand gibt. Und dieser Weg führt, so unspektakulär es klingt, über den Atem.
Inhaltsverzeichnis
- 1 Warum Atmen viel mehr ist als nur Luft holen
- 2 Die richtige Vorbereitung: Das A und O für den Erfolg
- 3 Praktische Atem-Spiele für jedes Alter
- 4 Und was, wenn der Vulkan unterwegs ausbricht?
- 5 Typische Probleme und was dann wirklich hilft
- 6 Kleine Anmerkung für besondere Kinder
- 7 Wann du dir Unterstützung holen solltest
Viele winken da ab und denken an Esoterik-Kram. Aber das ist es absolut nicht. Es ist simple Körperlogik. Wenn wir unseren Kids zeigen, wie sie ihren Atem bewusst steuern können, geben wir ihnen ein Werkzeug fürs ganze Leben mit. Hier teile ich also meine besten Tricks aus der Praxis – keine trockene Theorie, sondern einfache Übungen, die selbst im größten Chaos funktionieren.
Warum Atmen viel mehr ist als nur Luft holen
Um zu kapieren, warum das alles so gut funktioniert, machen wir einen winzigen Ausflug in unseren Körper. Stell dir unser Nervensystem wie ein Auto mit Gaspedal und Bremse vor.

Das Gaspedal (der Sympathikus) geht bei Stress, Angst oder Aufregung voll durch. Das Herz rast, die Muskeln spannen sich an, der Atem wird flach und schnell. Das ist eine uralte Reaktion, die uns früher geholfen hat, vor dem Säbelzahntiger abzuhauen. Der Körper ist im „Kampf-oder-Flucht“-Modus. Das Problem: Das Gehirn deines Kindes macht keinen großen Unterschied zwischen einem Säbelzahntiger und einem verlorenen Spiel. Die körperliche Reaktion ist dieselbe.
Die Bremse (der Parasympathikus) ist für Ruhe und Erholung zuständig. Ist sie getreten, wird der Herzschlag langsamer, die Muskeln entspannen sich, der Atem wird tief und ruhig. Das ist der „Chillen-und-Verdauen“-Modus.
Und jetzt kommt der Clou: Wir können diesen Schalter bewusst umlegen. Der direkteste Weg ist die Atmung. Tiefe, langsame Bauchatmung signalisiert dem Gehirn: „Alles cool, du kannst bremsen.“ Flaches, schnelles Keuchen schreit hingegen: „ALARM! GIB GAS!“
Probier’s direkt mal selbst aus, während du das hier liest. Atme einmal kurz und flach nur in die Brust. Fühlt sich gehetzt an, oder? Und jetzt atme einmal ganz tief in den Bauch, sodass er sich richtig nach vorne wölbt, und langsam wieder aus. Spürst du den Unterschied? Genau diesen Schalter zeigst du deinem Kind.

Die richtige Vorbereitung: Das A und O für den Erfolg
Bevor wir loslegen, muss ich einen Fehler ansprechen, den ich früher ständig gemacht habe: Ich habe versucht, einem tobenden Kind eine Atemübung zu erklären. Vergiss es. Das ist, als würdest du bei Orkanstärke versuchen, ein Zelt aufzubauen. In diesem Moment ist das Gehirn für neue Infos einfach nicht erreichbar.
Der Schlüssel ist, diese Übungen in ruhigen Momenten zu einem kleinen, feinen Ritual zu machen. Vielleicht direkt nach dem Aufwachen oder vor dem Schlafengehen. Es geht darum, das Werkzeug zu schmieden, bevor der Notfall da ist.
Schafft euch eine kleine Ruhe-Insel
Sucht euch einen festen Ort. Das muss nichts Besonderes sein! Eine Ecke im Zimmer mit einem weichen Kissen, einer Decke und dem Lieblingskuscheltier reicht völlig. Wichtig ist nur: keine Ablenkung durch Spielzeug oder Bildschirme. Viel brauchst du dafür nicht: Ein günstiges Kissen (gibt’s für 5-15 € in jedem Möbelhaus), eine Decke, die ihr eh habt, und das Kuscheltier. Fertig. Allein der Gang zu diesem Ort wird für dein Kind mit der Zeit zum Signal für „Jetzt wird’s ruhig“.

Sei selbst das Vorbild
Kinder sind kleine Spiegel. Wenn du selbst gestresst bist und hektisch Anweisungen gibst, funktioniert gar nichts. Setz dich mit hin. Atme selbst tief und hörbar aus. Zeig, dass du das auch machst. Deine Ruhe ist ansteckender als jede Erklärung.
Erwartungen runterschrauben!
Achtung: Erwarte keine Wunder über Nacht. Manche Kids machen sofort mit, andere finden es erstmal albern und brauchen Wochen. Bleib geduldig und spielerisch. Wenn ein Kind absolut nicht will, zwing es niemals. Probiert es am nächsten Tag einfach nochmal. Sobald Druck ins Spiel kommt, wird die Entspannungsübung selbst zum Stressfaktor.
Praktische Atem-Spiele für jedes Alter
Jedes Kind tickt anders. Was bei einem Dreijährigen super ankommt, findet ein Achtjähriger vielleicht total langweilig. Hier sind meine Favoriten, grob nach Alter sortiert – aber probiert ruhig alles mal aus!
Für die Kleinsten (ca. 2-4 Jahre): Spielerisch und zum Anfassen
In diesem Alter muss alles ein Spiel sein. Abstrakte Ansagen wie „Atme tief in den Bauch“ sind Schall und Rauch. Wir müssen es sichtbar und fühlbar machen.

1. Die Kuscheltier-Schaukel
Der absolute Klassiker und mein Liebling für den Einstieg. Das Kind legt sich auf den Rücken, und sein liebstes Kuscheltier kommt auf den Bauch. Jetzt heißt es: „Pass auf, dein Bär möchte schaukeln! Atme so tief ein, dass dein Bauch den Bären ganz hochhebt, wie auf einer Welle.“ Und dann: „Und jetzt lass die Luft langsam raus, damit der Bär sanft wieder runtersinkt.“
Superkraft: Macht die unsichtbare Bauchatmung sichtbar und beruhigt durch die sanfte, schaukelnde Bewegung.
2. Der Pusteblumen-Wunsch
Diese Übung trainiert einen langen, sanften Ausatem – das stärkste Signal an den Körper, um runterzukommen. Sagt zum Kind: „Stell dir vor, du hast eine riesige Pusteblume. Atme tief durch die Nase ein und puste dann gaaanz langsam alle Schirmchen weg, damit dein Wunsch ankommt.“ Eine echte Feder oder ein Papiertaschentuch, das weggeweht werden soll, funktioniert auch super.
Superkraft: Lehrt spielerisch die Kontrolle über den Ausatem.
3. Das Schlangen-Zischen
Macht den meisten Kindern riesig Spaß und hilft, angestaute Energie loszuwerden. Einfach tief durch die Nase einatmen und beim Ausatmen die Luft mit einem lauten, langen „Ssssssssss“ entweichen lassen. Je länger, desto besser.
Superkraft: Baut Frust und Anspannung ab und bremst den Atem automatisch durch den Zischlaut.

Für Kindergartenkinder (ca. 4-6 Jahre): Fantasie und Geschichten
Jetzt wird’s Zeit für kleine Geschichten. Kinder in diesem Alter lieben Fantasiereisen und können schon etwas komplexere Abläufe verstehen.
1. Die Bienen-Atmung
Ein echtes Wundermittel bei innerer Unruhe. Das Kind atmet tief durch die Nase ein, schließt beim Ausatmen den Mund und summt wie eine Biene: „Mmmmmm“. Wenn es dabei sanft die Hände über die Ohren legt (nicht zudrücken!), spürt es die Vibration noch intensiver. Das fühlt sich an wie eine kleine innere Massage.
Superkraft: Schaltet die laute Welt um einen herum stumm und beruhigt durch die Vibration.
2. Der heiße Kakao
Perfekt für kalte Tage oder als Einschlafritual. Stellt euch vor, ihr haltet eine große Tasse heißen Kakao in den Händen. „Atme tief durch die Nase ein und riech mal den leckeren Schokoduft.“ Kurz anhalten. „Puh, noch viel zu heiß! Puste ihn ganz langsam kalt, damit du dir nicht die Zunge verbrennst.“ Der Ausatem durch den gespitzten Mund sollte lang und gleichmäßig sein.
Superkraft: Verbindet die Atmung mit einem wohligen, positiven Gefühl.

3. Der Holzhacker-Atem
Manchmal muss die Wut einfach raus. Und zwar so richtig! Stellt euch mit leicht gespreizten Beinen hin. Beim Einatmen die Arme über den Kopf strecken, als würdet ihr eine Axt halten. Beim Ausatmen die Arme kraftvoll nach unten schwingen und dabei laut „HA!“ rufen. Achtung: Sorgt für genug Platz, damit niemand getroffen wird. Am besten draußen oder in einem großen Raum machen.
Superkraft: Kanalisiert starke Wut und lässt aufgestauten Dampf sicher ab.
Für Schulkinder (ab 6 Jahren): Struktur und Selbstkontrolle
Schulkinder können schon zählen und abstrakteren Konzepten folgen. Die Übungen dürfen jetzt etwas technischer werden.
1. Die Kasten-Atmung (Box Breathing)
Diese Technik nutzen sogar Profisportler und Spezialeinheiten, um in Stresssituationen einen klaren Kopf zu behalten. Das beeindruckt die Kids meistens. Stellt euch ein Quadrat vor: 1. Vier Sekunden einatmen. 2. Vier Sekunden Luft anhalten. 3. Vier Sekunden ausatmen. 4. Vier Sekunden Pause. Malt dabei mit dem Finger ein Quadrat in die Luft, um den Rhythmus zu visualisieren.
Superkraft: Gibt dem Gehirn eine klare Struktur und lenkt von Chaos-Gedanken ab.

2. Die 4-7-8-Atmung
Eine extrem wirksame Technik, besonders bei Einschlafproblemen oder Prüfungsangst. So geht’s: 4 Sekunden durch die Nase einatmen. 7 Sekunden die Luft anhalten. 8 Sekunden lang hörbar durch den Mund ausatmen. Wiederholt das aber nur drei- oder viermal, das ist sehr kraftvoll! (Wichtiger Hinweis: Bei Kindern mit Asthma bitte vorher mit dem Arzt sprechen.)
Superkraft: Der Turbo-Knopf für die Körper-Bremse, ideal zum Einschlafen.
Und was, wenn der Vulkan unterwegs ausbricht?
Klar, eine Ruhe-Insel hat man im Supermarkt nicht dabei. Für den Notfall im Auto oder in der Warteschlange helfen diese Mini-Tricks:
- Fenster anpusten: „Mal mal mit deinem Atem ein Bild an die Scheibe!“
- Hände wärmen: „Puste mal ganz warm in meine kalten Hände.“
- Seifenblasen-Atem: „Stell dir vor, du machst riesige, bunte Seifenblasen. Puste ganz langsam, damit sie nicht platzen!“
Hier geht es nur darum, den Ausatem zu verlängern und den Fokus vom Drama wegzulenken.
Typische Probleme und was dann wirklich hilft
„Das ist doch albern!“
Kommt oft von älteren Kindern. Mein Trick: Erkläre die Logik dahinter. Erzähl von der Bremse und dem Gaspedal im Körper oder dass sogar Piloten das machen, um ruhig zu bleiben. Das schafft Akzeptanz.

Das Kind wird noch unruhiger.
Passiert, wenn der Druck zu hoch ist. Brich die Übung sofort ab. Lass das Kind stattdessen ein paar Hampelmänner machen oder auf der Stelle rennen. Manchmal muss der Körper erst mal die Anspannung loswerden, bevor Ruhe einkehren kann.
„Hilfe, ich kriege keine Luft!“
Einige Kinder bekommen Panik, wenn sie sich auf den Atem konzentrieren sollen. Der beste Weg hier: Fokus sofort nach außen lenken! Sag nicht „Atme ruhig“, sondern gib eine konkrete Aufgabe: „Puste mal die Kerze auf dem Tisch aus“ oder „Schau mal, kannst du das Staubkorn vom Tisch pusten?“. Das verlagert die Konzentration weg vom Körper.
Im Ernstfall klappt es einfach nicht.
Das ist völlig normal, wenn ihr nicht regelmäßig in Ruhe übt. Mitten im Wutanfall ist das „denkende Gehirn“ offline. Das Einzige, was dann hilft, bist DU. Atme selbst tief und hörbar. Bleib einfach da. Biete eine Umarmung an, ohne viel zu reden. Erst wenn der Sturm vorbei ist, kannst du sanft an die Übung erinnern.

Kleine Anmerkung für besondere Kinder
Übrigens: Diese Techniken können auch für Kinder mit Besonderheiten wie ADHS oder aus dem Autismus-Spektrum eine riesige Hilfe sein. Hier braucht es aber oft noch mehr Geduld, viele Wiederholungen und visuelle Hilfen. Eine kleine Sanduhr, die die Atemlänge anzeigt, oder bunte Karten für Ein- und Ausatmen können Wunder wirken.
Wann du dir Unterstützung holen solltest
Atemübungen sind ein geniales Werkzeug, aber kein Allheilmittel. Wenn dein Kind unter dauerhaften, starken Ängsten leidet, extrem aggressiv ist oder ihr etwas Schlimmes erlebt habt, dann ersetzen diese Übungen keine professionelle Hilfe. Sprich mit deinem Kinderarzt, einer Erziehungsberatungsstelle oder einem Therapeuten. Sich Hilfe zu suchen ist kein Scheitern, sondern ein Zeichen von Stärke.
Die Fähigkeit, sich selbst zu beruhigen, ist eines der größten Geschenke für unsere Kinder. Es ist ein Weg, der Geduld braucht. Aber glaub mir: Jeder einzelne ruhige Atemzug ist ein riesiger Schritt in ein starkes und glückliches Leben.



