Memphis-Stil: Mehr als nur bunt – Ein ehrlicher Ratgeber aus der Werkstatt
Ich kann mich noch gut an das erste Mal erinnern, als ich diese Möbel in Fachzeitschriften sah. Als junger Schreinergeselle, aufgewachsen mit massiver Eiche und der heiligen Lehre des rechten Winkels, war das ein echter Schock. Bunt, schräg, irgendwie unmöglich. Mein erster Gedanke war, ganz ehrlich: „Wer zum Teufel kauft denn so was?“ Das sah aus wie aus einem Comic, nicht wie ein ernstzunehmendes Möbelstück.
Inhaltsverzeichnis
- 0.1 Was steckt wirklich hinter dem Memphis-Stil?
- 0.2 Die typischen Materialien: Ein Blick unter die Haube
- 0.3 Formen und Konstruktion: Ein Bruch mit allen Regeln
- 0.4 Farben und Muster: Mut zum kontrollierten Chaos
- 0.5 Memphis nach Hause holen: So klappt’s
- 0.6 Original, Nachbau oder Billig-Kopie? Augen auf beim Kauf!
- 0.7 Für wen dieser Stil eher nichts ist
- 0.8 Fazit: Ein Stil mit Humor und Selbstbewusstsein
- 1 Bildergalerie
Es hat wirklich Jahre gedauert, bis ich den Mut und vor allem die geniale Handwerkskunst hinter dieser lauten Fassade verstanden habe. Heute, als Meister mit eigener Werkstatt, sehe ich diesen Stil mit ganz anderen Augen. Ich habe originale Stücke restauriert, Kunden beraten, die sich genau diesen Farbtupfer in ihr Leben holen wollten, und meinen Azubis die kniffligen Techniken beigebracht, die man dafür braucht. Memphis ist mehr als nur ein Stil. Es ist eine Haltung.
Was steckt wirklich hinter dem Memphis-Stil?
Wenn Kunden mich heute danach fragen, höre ich oft: „Das ist doch dieses schrille Zeug aus den Achtzigern, oder?“ Ja, klar. Aber das ist nur die Oberfläche. Im Kern war diese Bewegung eine Rebellion. Eine laute, bunte Rebellion gegen das ewige „Form folgt Funktion“, gegen die beigen und braunen Wohnlandschaften einer früheren Design-Epoche, die zwar praktisch, aber oft auch todlangweilig waren.

Eine Gruppe junger Designer in Mailand wollte einfach wieder Spaß an der Sache haben. Sie wollten provozieren und die Grenzen des guten Geschmacks neu definieren. Der Name soll übrigens von einem Song inspiriert sein, der an dem Abend lief, als sie die Gruppe gründeten. Das passt irgendwie. Es ging um Gefühl, um Spontaneität, um das Ungeplante. Sie warfen alles in einen Topf, was damals als „stillos“ galt: Formen aus dem Art déco, knallige Pop-Art-Farben und den Kitsch aus Souvenirläden. Das Ergebnis war etwas völlig Neues. Laut, ironisch und randvoll mit Energie.
Die typischen Materialien: Ein Blick unter die Haube
Das Besondere am Memphis-Stil sind nicht nur die Formen, sondern vor allem die Materialien. Man hat bewusst auf damals als „billig“ empfundene, industrielle Werkstoffe gesetzt und sie behandelt wie edles Marmor. Das war Teil der Provokation.
Kunststofflaminat (HPL): Der Star der Show
Das wichtigste Material war ohne Zweifel Kunststofflaminat, unter Profis auch HPL (High-Pressure Laminate) genannt. Spezialisierte Hersteller entwickelten damals extra für diese Designrichtung kühne Muster. Eines der bekanntesten sieht aus wie kleine Würmchen auf buntem Grund. Dieses Laminat besteht aus mehreren Papierschichten, die mit Kunstharz getränkt und unter enormem Druck und Hitze verpresst werden. Ziemlich robustes Zeug.

- Vorteile aus der Praxis: HPL ist extrem kratzfest, super pflegeleicht und die Farben leuchten auch nach Jahrzehnten noch. Einfach mit einem feuchten Tuch abwischen, fertig. Perfekt für Tischplatten oder Regalböden, die auch wirklich benutzt werden.
- Herausforderungen in der Werkstatt: Die Kanten sind die Achillesferse. Wenn man Laminat schneidet, bricht die spröde Oberschicht leicht aus. Wir nutzen dafür spezielle Sägeblätter und einen langsamen Vorschub. Die Kanten müssen danach perfekt versiegelt werden, sonst zieht Feuchtigkeit in die Trägerplatte (meist eine Spanplatte) und lässt sie aufquellen. Eine kaputte Ecke zu reparieren, ist fast unmöglich – da muss man oft die ganze Fläche erneuern. Ich hatte mal einen Kunden, dessen Kind mit dem Spielzeugauto gegen sein teures Designer-Regal gefahren ist. Eine winzige Macke, aber ein riesiger Aufwand, das wieder unsichtbar hinzubekommen.
Gut zu wissen: Solche HPL-Platten bekommst du im gut sortierten Holzfachhandel oder kannst sie online, zum Beispiel bei Anbietern wie plattenzuschnitt24.de, oft direkt auf Maß bestellen. Rechne mal mit Preisen zwischen 30 € und 80 € pro Quadratmeter, je nach Muster und Qualität.

Terrazzo: Schwergewicht mit Charakter
Terrazzo, den viele nur aus alten Treppenhäusern kennen, wurde plötzlich für Tischplatten und Lampenfüße verwendet. Er besteht aus Zement oder Kunstharz, in das bunte Stein- oder Glasstücke gemischt werden. Nach dem Aushärten wird die Oberfläche in einem aufwendigen Prozess geschliffen und poliert, bis die Einschlüsse funkeln.
- Handwerkliche Aspekte: Das Zeug ist bleischwer. Eine Tischplatte von 80×80 cm wiegt locker 50-60 kg. Das Untergestell muss das aushalten können, was viele Heimwerker unterschätzen. Die Statik muss absolut stimmen! Wir gießen Terrazzo selbst in Formen, eine staubige und mühsame Arbeit, die viel Erfahrung erfordert.
- Praktische Hinweise: Terrazzo auf Zementbasis ist porös. Ohne eine gute Versiegelung (meist mit einem speziellen Wachs) ist der Rotweinfleck vorprogrammiert. Die Versiegelung muss man übrigens regelmäßig erneuern.
Lackiertes Metall und Glas
Dünne, oft bunt pulverbeschichtete Metallrohre bilden die tragenden Strukturen vieler Entwürfe. Sie wirken filigran, fast zerbrechlich, und stehen im Kontrast zu massiven Elementen wie Terrazzo. Dazu kommt oft farbiges oder sandgestrahltes Glas.

Achtung, Sicherheit! Ein Thema, das mir als Meister am Herzen liegt. Viele der originalen Couchtische hatten gefährlich scharfe Glaskanten. Nach heutigen Sicherheitsnormen wäre das undenkbar. Bei Nachbauten oder Restaurierungen achten wir immer darauf, die Kanten sauber zu schleifen und zu polieren, um die Verletzungsgefahr zu minimieren. Gerade in Haushalten mit Kindern ein absolutes Muss!
Formen und Konstruktion: Ein Bruch mit allen Regeln
Für einen Tischler, der gelernt hat, dass eine Verbindung stabil und sichtbar schön sein muss, sind diese Möbel eine Lektion in Demut. Die Konstruktion ist oft überraschend simpel, fast schon primitiv. Schräge Ebenen und gestapelte geometrische Körper werden oft nur mit einfachen Schrauben, Dübeln und Winkeln zusammengehalten, die man von außen nicht sieht. Die Magie liegt in der Verkleidung mit Laminat, die alles wie aus einem Guss wirken lässt.
Die scheinbare Instabilität ist Teil des Konzepts. Die Möbel sehen oft so aus, als würden sie gleich umkippen. Das erzeugt eine unglaubliche Spannung im Raum. In der Praxis müssen sie aber natürlich absolut sicher sein. Bei einem Nachbau für einen Kunden haben wir deshalb innenliegende Stahlverstärkungen verbaut, um die Stabilität zu gewährleisten, ohne die äußere Form zu verändern. Manchmal ist das, was man nicht sieht, die größte handwerkliche Leistung.

Farben und Muster: Mut zum kontrollierten Chaos
Die Farbpalette ist legendär. Knalliges Gelb trifft auf Königsblau, sanftes Rosa auf Mintgrün. Dazu kommen grafische Schwarz-Weiß-Muster. Es gibt nur eine Regel: Es darf nicht langweilig sein. Das Prinzip nennt sich „Color Blocking“, also das Nebeneinandersetzen klar abgegrenzter Farbflächen.
Meine Kunden fragen oft nach den perfekten Farbtönen. Ich greife da gerne zu Klassikern wie einem knalligen Rapsgelb (das ist RAL 1021), kombiniere es mit einem kühlen Minttürkis (RAL 6033) und setze als Kontrast Tiefschwarz (RAL 9005) ein. Das knallt richtig!
Kleiner Tipp aus der Malerwerkstatt: Wenn du eine Wand so gestalten willst, müssen die Linien gestochen scharf sein. Dafür nehmen wir Profis spezielles Malerkrepp, oft ist das lila oder goldfarben, zum Beispiel das „FrogTape“ oder das „tesa Malerband für empfindliche Oberflächen“. Trick 17: Kleb die Kante ab und streich dann zuerst mit der Grundfarbe der Wand über die Klebebandkante. So läuft die Grundfarbe in die winzigen Lücken. Nachdem diese dünne Schicht trocken ist, streichst du die neue Farbe. Zieht man das Band dann ab, ist die Linie perfekt. Ein kleiner Aufwand mit riesiger Wirkung!

Memphis nach Hause holen: So klappt’s
Du musst ja nicht gleich deine ganze Wohnung in ein Design-Museum verwandeln. Der Stil funktioniert am besten in kleinen Dosen, wie ein starkes Gewürz.
Für Einsteiger: Mit Accessoires starten
Der einfachste Weg führt über kleine Objekte. Eine ikonische Lampe oder ein paar Kissen mit grafischen Mustern können einen Raum sofort verändern. Ein kleiner Beistelltisch ist auch ein super Anfang. Geringes Risiko, große Wirkung.
Ach ja, und hier noch ein 5-Minuten-Hack: Nimm eine simple weiße Blumenvase und bekleb sie mit schwarzem Isolierband in wilden, zackigen Mustern. Dauert fast nichts, kostet Cents und schreit sofort „Memphis“!
Für Mutige: Das Statement-Möbel
Wenn du dich mehr traust, such dir ein einziges, großes Möbelstück aus. Ein berühmtes Bücherregal dieses Stils ist so ein Klassiker. Aber hier kommt eine ehrliche Warnung von mir: Das Ding ist kein Bücherregal. Es ist eine Skulptur. Die schrägen Fächer sind total unpraktisch, es passt kaum was rein und stabil ist es auch nicht. Man muss es an der Wand sichern, besonders wenn Kinder im Haus sind. Wenn du also wirklich Stauraum brauchst, ist dieses Möbel die falsche Wahl. Sei ehrlich zu dir selbst: Brauchst du Funktion oder reine Ästhetik?

Für Selbermacher: Die eigene Kommode pimpen
Du kannst den Geist von Memphis auch mit einfachen Mitteln einfangen. Hier eine kleine Anleitung, wie du eine langweilige Kommode umgestaltest:
- Vorbereitung ist alles: Besorg dir eine schlichte, günstige Kommode (z.B. vom Schweden oder vom Flohmarkt). Baue sie auseinander und schleife alle Oberflächen leicht an. Das ist wichtig, damit die Farbe hält! Danach alles gründlich entstauben.
- Grundieren: Trage einen Haftgrund auf. Das ist der Kleber zwischen der alten Oberfläche und der neuen Farbe. Nicht überspringen, sonst blättert alles ab!
- Farbe bekennen: Jetzt kommt der Spaß! Streiche die einzelnen Teile (Korpus, Schubladenfronten, Beine) in verschiedenen, knalligen Farben. Lass deiner Fantasie freien Lauf! Zwei Anstriche sind meistens nötig für ein deckendes Ergebnis.
- Muster hinzufügen (optional): Klebe mit Malerkrepp geometrische Formen auf den Schubladenfronten ab und male sie in einer Kontrastfarbe aus. Oder nutze selbstklebende Folie mit Mustern.
- Zusammenbauen und freuen: Wenn alles gut durchgetrocknet ist (gib der Farbe mindestens 24 Stunden), baust du die Kommode wieder zusammen. Fertig ist dein Unikat!
Plane dafür mal einen Nachmittag Arbeit und etwa 50-70 Euro für Farben, Pinsel und Grundierung ein.

Original, Nachbau oder Billig-Kopie? Augen auf beim Kauf!
Ein heikles, aber wichtiges Thema. Echte Möbel aus der Entstehungszeit sind heute Sammlerstücke und kosten schnell mehrere tausend Euro. Das ist eine Wertanlage, aber nichts für den schmalen Geldbeutel.
Dann gibt es die offiziell lizenzierten Neuauflagen von der ursprünglichen Marke. Die sind ebenfalls teuer, aber du bekommst garantierte Qualität, geprüfte Sicherheit und authentisches Design. Für ein kleines Regal bist du da schnell mit über 1.000 Euro dabei.
Und dann ist da der riesige Markt der Nachbauten. Hier musst du höllisch aufpassen. Eine gute Replika von einem seriösen europäischen Händler kann eine tolle Alternative sein, kostet für eine Lampe vielleicht 150 bis 300 Euro und ist sicherheitstechnisch geprüft. Aber bitte, Finger weg von den 40-Euro-Schnäppchen aus Fernost! Ich habe schon Lampen gesehen, bei denen die Kabelisolierung nach kurzer Zeit brüchig wurde. Das ist eine ernsthafte Brandgefahr.
Für wen dieser Stil eher nichts ist
Als Handwerker ist es meine Pflicht, auch mal abzuraten. Dieser Stil ist nicht für jeden geeignet.

- Für Ruhesuchende: Wenn du nach Hause kommst, um abzuschalten, kann die visuelle Unruhe des Stils echten Stress erzeugen. Er ist das genaue Gegenteil von Harmonie.
- In kleinen, dunklen Räumen: Die wuchtigen Formen brauchen Platz zum Atmen. In einem winzigen Raum wirken sie schnell erdrückend. Viel Licht ist Pflicht.
- Wenn Funktion an erster Stelle steht: Wie gesagt, die Funktion ordnet sich oft der Form unter. Stühle sehen vielleicht toll aus, sind aber nicht unbedingt bequem. Probiere ein Möbelstück immer aus, bevor du es kaufst.
Fazit: Ein Stil mit Humor und Selbstbewusstsein
Dieser Look hat sich von einer Provokation zu einem echten Design-Klassiker entwickelt. Er hat uns gelehrt, dass Einrichtung auch Spaß machen und eine persönliche Geschichte erzählen darf. Er ist nicht leise und schon gar nicht zurückhaltend. Er erfordert Mut vom Bewohner und Können vom Handwerker.
Mein Rat an dich? Hab keine Angst, aber sei überlegt. Fang klein an. Spür, wie der Stil auf dich wirkt. Und das Wichtigste: Nimm es nicht zu ernst. Memphis hatte immer einen riesigen Sinn für Humor. Wenn du beim Anblick deines neuen bunten Tisches schmunzeln musst, dann hast du alles richtig gemacht.

Bildergalerie


„Ich liebe den Mut des Memphis-Stils, aber wie integriere ich ein solches Statement-Möbel, ohne dass meine Wohnung wie ein Museum aus den 80ern wirkt?“
Eine berechtigte Sorge! Der Trick liegt im bewussten Kontrast. Behandeln Sie ein Memphis-Stück wie ein Kunstwerk. Ein einzelner „Kristall“-Tisch von Michele De Lucchi oder eine „Tahiti“-Leuchte von Ettore Sottsass entfaltet ihre volle Kraft in einem ansonsten ruhigen, fast minimalistischen Umfeld. Stellen Sie sich das Stück vor einer schlichten, neutral gestrichenen Wand vor, kombiniert mit einem Sofa in Grau oder Naturleinen. Das laute, exzentrische Design braucht einen leisen Partner, um wirklich zu strahlen und seine Geschichte zu erzählen, anstatt den Raum zu dominieren.
Das berühmteste Muster des Memphis-Stils, bekannt als „Bacterio“, entstand durch einen Zufall. Ettore Sottsass zeichnete es während eines Indien-Urlaubs auf ein Notizbuch, inspiriert von den Umrissen eines Shiva-Tempels.
Dieses organische, fast krakelige Muster war die perfekte Antithese zu den strengen, geometrischen Rastern der Moderne. Produziert von der italienischen Firma Abet Laminati, zierte es unzählige Oberflächen und wurde zum visuellen Markenzeichen einer ganzen Design-Rebellion, die das Spielerische und Unperfekte feierte.



