Sitzmöbel im Wandel ihrer Zeit – Die Top Ten der Entwürfe des 20. Jahrhunderts

von Augustine Schneider
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Stühle haben eine dem Menschen dienende Funktion. Sie sollen ihn tragen, möglichst bequem und optisch ansprechend gestaltet sein. Dabei unterliegt die individuelle Ausgestaltung der Anforderungen dem jeweiligen Geschmack ihrer Zeit, was Formen, Farben und Materialien anbetrifft. Waren Sitzmöbel im 19. Jahrhundert hinsichtlich ihrer Materialwahl auf Hölzer, Naturfasern und Stoffe beschränkt, so nahm die Frage nach den zu verwendenden Materialien in den Diskursen junger, aufstrebender Möbeldesigner des beginnenden 20. Jahrhunderts einen immer breiteren Raum ein. Die Materialpalette öffnete sich für völlig neuartige Materialien wie Metalle und Kunststoffe.

Der Wunsch nach Funktionalität wurde zum Paradigma einer jungen Zunft erkoren, die sich in einer immer schrilleren Formensprache artikulierte. Sie wollte einerseits Aufmerksamkeit erregen und bis zu einem gewissen Maße provozieren, andererseits aber ihren Blick für das Wesentliche – einer Funktionalität im Dienst des Benutzers – nicht verlieren.

Der Verfasser hat sich im Folgenden den aus seiner Sicht zehn bemerkenswertesten Designansätzen im Bereich Sitzmöbel steckbriefartig gewidmet, ohne dabei einen Anspruch auf Vollständigkeit erheben zu wollen. Außerdem wird keine Allgemeingültigkeit hinsichtlich der getroffenen Auswahl beansprucht. Die Reihenfolge ist rein chronologischer Natur und stellt keine Wertung dar.

 Der Rot-Blaue Stuhl (Rood-blauwestoel), Gerrit Rietveld (1917)

Bild 2 Holzstuhl sitzmöbel

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  •  Vorgaben: Einfache Bauweise, preiswerte Herstellung, günstiger Preis
  •  Idee: Schlichte Formensprache und offene Struktur; Grundsätzlichkeit hinsichtlich Funktionalität und Material; Überwindung von Form-Raum-Problemen
  •  Ausführung: Lattenkonstruktion aus 13 massiven Vierkanthölzern und zwei Latten aus Buche; Sitzfläche und Rückenlehne aus Schichtholz; Verleimung mit Holzdübeln
  •  Charakter: Strenge Geometrie mit senkrechter und waagerechter Linienführung
  • Produktion: Weitere Ausführung mit Seitenteilen unter den Armlehnen 1918; erste farbliche Fassung 1923 in den Grundfarben Rot, Blau und Gelb. (rote Rückenlehne, blaue Sitzfläche, schwarze Leisten, gelbe Stirnpunkte); weitere Varianten in der Farbkomposition folgten; wird heute von der Mailänder Firma Cassina S.p.A. in der Variante rot/blau/gelb/schwarz hergestellt, welche die Exklusivrechte an Nachbauten hält
  •  Zitat: „Die Konstruktion hilft, die Teile zusammenzufügen ohne sie zu verstümmeln, ohne dass das eine das andere dominiert, sodass schließlich das Ganze klar und frei im Raum steht und das Material die Form betont“. (Rietveld)

 Der Wassily-Sessel, Marcel Breuer (1926)

Wassily Sessel Marcel Breuer chrom leder sitzmöbel

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  •   Vorgaben: Entwurf für das Bauhaus
  •  Idee: Verschmelzung von Kunst und Technik zu einer formalen Einheit (Bauhaus)
  •  Ausführung: Kombination von aufwendig geformten Gestell mit einer Lederbespannung; tragendes Gestell aus nahtlos geformten Rohren aus Stahl
  •  Charakter: Luftiger Habitus durch offene Lederbespannung als Ersatz für eine geschlossene Rücken- und Sitzfläche; klare Formensprache, in Anlehnung an Rietvelds funktionaler Sachlichkeit (mehr hierzu siehe Blog von Smow)
  •  Produktion: Seit Ende der 20er Jahre, unterbrochen durch den Zweiten Weltkrieg; Wiederaufnahme nach Kriegsende bis heute, Lizenznehmer ist Knoll International
  •  Bedeutung: Eines der ersten Möbeldesigns, das den Werkstoff Stahlrohr nutzt

 Der BarcelonaSessel, Ludwig Mies van der Rohe (1929)

sitzmöbel barcelona sessel orange mies van der rohe

  •  Vorgaben: Wurde im Auftrag der Weimarer Regierung für den deutschen Pavillon der Weltausstellung 1929 in Barcelona konzipiert; sollte als Sitzgelegenheit für das spanische Königspaar bei der feierlichen Eröffnung des Gebäudes elegant und königlich wirken
  •  Ausführung: Gestell aus verchromten Edelstahl, das bis heute von Hand geschliffen und poliert wird; Kissen bestehen aus 40 quadratischen Ledersegmenten, die einzeln von Hand mit dem Rahmen vernäht werden und durch handgefertigte Lederknöpfe gegliedert werden; Sitz- und Rückenkissen werden mit acht Lederriemen am Rahmen des Sessels befestigt
  •  Charakter: Scherenstuhl von schlichter, zeitloser Eleganz durch Reduktion auf das Wesentliche – eine nach hinten angewinkelte breite Sitzfläche auf einem leichten, geschwungenen X-förmigen Gestell
  •  Produktion: Anfängliche, aufwändige Einzelfertigung von der Firma Metallgewerbe Josef Müller in Berlin; Neuauflage nach dem Krieg; Übergabe der Exklusivrechte 1953 an Knoll International; ununterbrochene Produktion in Handarbeit bis heute

 La chaise, Charles und Ray Eames (1948)

sitzmöbel La chaise Charles Ray Eames

  •  Vorgaben: Bildete ein Beitrag für den Wettbewerb „Low Cost Furniture Design“ des Museums of Modern Art in New York (1948);
  •  Idee: Inspiriert durch die Bronze-Skulptur „Floating Figure“ (weiblicher Akt) des Bildhauers Gaston Lachaise (1927); Sitzmöbel sollte die Thematik des neuartigen Materials Kunststoff in Gestalt einer Liege umsetzen
  •  Ausführung: Ursprünglich formgepresste, zwischen zwei Kunststoffschichten ruhende Hartgummi-Sitzschalen; zwei miteinander verklebte Fiberglasschalen ruhen auf fünf Stahlrohr-Streben, die in ein Holz-Bodenkreuz eingelassen sind;
  •  Charakter: Raumausgreifender, skulpturaler Habitus; fließende, geschwungene Formensprache; Aussparung im Rückensegment soll die Leichtigkeit der Linienform unterstreichen
  •  Produktion: Galt lange Zeit als ein für eine Serienproduktion zu aufwändiges Unterfangen; wird erst seit 1990 in Lizenz von der Schweizer Firma Vitra in Serie gefertigt
  •  Bedeutung: Erstes Sitzmöbel aus Kunststoff

  Die Ameise, Modell 3101, Prototyp zur Serie 7, Arne Jacobsen (1951)

Jacobsen Stuhl Ameise

  •  Vorgaben: Kostengünstig und geeignet für die Massenproduktion; Entwurf für eine Kantine des dänischen Pharmazieunternehmens Novo Nordisk; orientierte sich an den Vorgaben von Ray und Charles Eames, die seit 1945 mit dem neuen Werkstoff Schichtholz und deren Verformung experimentierten
  •  Idee: Biegen von schichtverleimten Furnierplatten unter Einwirkung von heißem Wasserdampf in neuartige Formen; simples Bauprinzip durch Reduktion auf wenige Bauteile; Stapelbarkeit
  •  Ausführung: Sitzschale aus einem einzigen Stück verleimtem Schichtholz, bestehend aus neun Lagen; Verstärkung der äußersten und innersten Lagen mit eingearbeitetem Baumwoll-Gewebe; drei (Modell 3100) und später vier Stuhlbeine (Modell 3101) aus Stahlrohr
  •  Charakter: Figuraler, graziler Duktus durch namensgebende Taillenform der Einheit von Sitz- und Rückenlehne; einfache, an der Natur orientierte Formensprache
  •  Produktion: Bildete als Prototyp den Auftakt zur Reihe 7, die 1955 in Serienproduktion ging; Hersteller: Fritz Hansen, Dänemark; Nummer3107 meistverkauftes Modell der Reihe; ist heute mit verschiedenen Untergestellen auch als Bar- und Drehstuhl sowie als Kinderstuhl erhältlich
  •  Bedeutung: Gilt mittlerweile als einer der weltweit kommerziell erfolgreichsten Stühle aller Zeiten; einer der ersten Stühle in Serienfertigung mit einer Sitzschale aus einem einzigen Stück Schichtholz

 Der TulipChair (Pedestal Collection), Eero Saarinen (1955)

sitzmöbel tulip chair eero saarinen

  •  Vorgaben: Experimentieren mit Fiberglas als neuem Werkstoff; Gestalten völlig neuartigen Sitzmöbels
  •  Idee: Schaffung fließender, schlanker Formen; Vermeidung optischer Unruhe durch ein Zuviel an Stuhl- und Tischbeinen; Kreation einer harmonischeren Einheit von Tisch und Stuhl; Möbel sollte möglichst aus einem Stück hergestellt sein
  •  Ausführung: Zweiteilige Konstruktion aus einer formgepressten, glasverstärkten Kunststoffschale und einem Stand-Fuß aus kunststoff-beschichtetem Aluminiumguss; Innenschale mit abnehmbarem Sitzkissen
  •  Charakter: Der Natur entlehnte Formensprache (Tulpenblatt-Form der Sitzschale); fließende, kurvenreiche Formen
  •  Produktion: Unverändert bis heute von der Firma Knoll International als Lizenznehmer
  •  Bedeutung: Erster Stuhl mit nur einem Möbelbein und optisch zu einer Einheit miteinander verschmolzenem Sitz und Fuß
  •  Zitat: „Jedes bedeutende Möbelstück aus der Vergangenheit hat eine ganzheitliche Struktur“ (Eero Saarinen, Quelle: www.telegraph.co.uk/luxury/co)

 Der Lounge Chair (Eames Lounge, 670), Charles und Ray Eames (1956)

sitzmöbel eames lounge chair

  •  Vorgaben: Kreation einer zeitgemäßen Version des traditionellen, britischen Clubsessels als Geburtstagsgeschenk für den gemeinsamen Freund und Regisseur Billy Wilder
  •  Idee: Kombination von höchstem Sitzkomfort mit edelster Verarbeitung und einer großzügigen Dimensionierung
  •  Ausführung: Komposition aus drei mittlerweile siebenlagigen Schichtholzschalen im Kopf-, Rücken- und Sitzbereich; drehbarer Fuß; zwei identische, entfernbare Lederkissen Rückenbereich; baugleiche Lederkissen im Sitzbereich des Sessels und des dazu bestellbaren Ottomanen
  •  Charakter: Erreicht seine gewünschte Ausrichtung als luxuriöses, komfortables Sitzmöbel durch ausschließliche Verwendung hochwertiger Materialien und komfortable Platzfülle
  • Produktion: Herstellung seit 1956 von dem US-amerikanischen Möbelhersteller Hermann Miller, Inc., Zeeland/Michigan und wenig später von der Schweizer Vitra AG für den europäischen Markt; nur geringfügige Konstruktionsmodifikationen im Lauf der Jahrzehnte; Standardversionen in Kirschbaum, Santos Palisander, Nussbaum schwarz oder weiß pigmentiert und in Esche schwarz; kombinierbar mit verschiedenen Lederfarben
  • Bedeutung: Erster Entwurf Eames‘ im Hochpreissegment
  • Zitat: „Der Sessel sollte das warme, einladende Flair eines gebrauchten Baseball-Fanghandschuhs haben“ (Charles Eames, siehe www.eamesoffice.com )

 Der „ConeChair“ (Kraemmerhusstole K1) , Verner Panton (1958)

Bild 9 Der Cone Chair sitzmöbel verner panton

  •  Vorgaben: Entwurf von Clubsesseln für das neu auszubauende und zu gestaltende dänische Restaurant „Kom-Igen“, das Ausflugslokal seines Vaters
  •  Idee: Schaffung eines neuartigen Clubsessels, der – wie verner-panton.de ausführt – geometrische Formen und Funktionalität vereinen sollte
  •  Ausführung: Halbkreisförmig hochgezogene, gepolsterte Schale zur Rücken- und Armaufnahme auf Drehfußkreuz aus rostfreiem Edelstahl; beschichteter Unterbau; Polsterung aus Polyurethanschaum mit Sitzkissen
  •  Charakter: Anlehnung an die geometrische Grundform eines Kegels
  •  Produktion: Seit 1959 von der dänischen Firma Plus-linje; seit 1967 von der Schweizer Vitra AG; Polsterung in 13 Farben wählbar
  •  Bedeutung: Erstes von Verner Panton entworfene Sitzmöbel der Tütenstuhl-Serie „K“; Erstes Serienmöbel, dessen Bezugsstoff in der Farbe Rot erhältlich war; Nahm Elemente der Pop Art vorweg

 Der Panton Chair, Verner Panton (1960)

sitzmöbel panton chair rot plastik

  • Vorgabe: Entwicklung einer neuen Formensprache mit Hilfe neuer Materialien und Herstellungsmethoden
  • Idee: Kunststoff-Stuhl ohne Hinterbeine; perspektivabhängiges, multi-stilistisches Erscheinungsbild
  • Ausführung: Zwei Varianten, entweder als lackierte Hartschaum-Vollkunststoffschale („PantonChair Classic“) oder durchgefärbtes Polypropylen („PantonChair“, seit 1999)
  • Charakter: Markante, Z-förmig geschwungene Silhouette; skulpturaler Habitus
  • Produktion: Markteinführung 1967; kann aber erst seit 1999 entsprechend seiner Grundidee als durchgefärbte Polypropylen-Variante von Vitra AG produziert werden; aktuell sechs Farbvarianten
  • Bedeutung: Erster aus einem Stück gefertigter, freischwingender Vollkunststoff-Stuhl; steht für den schrill-bunten Kunststoff-Glauben der 60er Jahre

 Der Ball Chair (GlobeChair), Eero Aarnio (1963)

sitzmöbel ball chair weiß grün eero aarnio

  •  Vorgabe: Entwurf eines Sitzmöbels aus Kunststoff als „Raum im Raum“; Abschirmen des Sitzenden von störenden Geräuschen der Umgebung; Schaffung einer ungestörten Privatsphäre
  •  Idee: Realisation mit Hilfe der einfachsten geometrischen Grundform – der Kugel; Abtrennen eines Kugelabschnitts, Fixierung an einem festen Punkt im Raum und Ausgestaltung als Lebensbereich im gepolsterten Innenraum
  •  Ausführung: Fiberglas-Gehäuse auf einem um 360 Grad drehbaren Stahl-Drehsockel; Innenleben aus Polsterstoff oder Leder
  •  Charakter: Runde Formensprache ohne Ecken und Kanten, von der Natur inspiriert; Unkonventionelle Formgebung als „zu bewohnende Raumkapsel“
  •  Produktion: Präsentation 1966 auf der Internationalen Möbelmesse in Köln; Produktion von Beginn an in Finnland; seit 1990 Exklusivmarketing und –vertrieb der Fiberglaskollektion durch Adelta International in Dinslaken; aktuell vier Gehäuse- und sechs Polsterfarben wählbar
  •  Bedeutung: Futuristischer Vertreter des Space Age-Designs; Verkörperung des Plastik-Pop der 60er und 70er Jahre (Quelle: Washington Post); Bruch mit traditionellen Design-Konventionen

Bilder:

Abbildung 1: fotolia©memendesign (#95832216)

Abbildung 2: pixabay©stux(CCO 1.0)

Abbildung3: fotolia©tektur (#69367566)

Abbildung 4: fotolia©BBB3 (#3372846)

Abbildung 5: fotolia©Uolir (#30704343)

Abbildung6: fotolia©Vra.K.(#7054504)

Abbildung 7: fotolia©Ettore (#31205176)

Abbildung8:fotolia©Uolir(#24401158)

Abbildung9: pixabay©stux(CCO 1.0)

Abbildung10: fotolia©fkurtcan01(#81399325)

Abbildung 11: fotolia©ShpilbergStudios (#42079701)

Augustine Schneider

Augustine ist eine offene und wissenshungrige Person, die ständig nach neuen Herausforderungen sucht. Sie hat ihren ersten Studienabschluss in Journalistik an der Uni Berlin erfolgreich absolviert. Ihr Interesse und Leidenschaft für digitale Medien und Kommunikation haben sie motiviert und sie hat ihr Masterstudium im Bereich Media, Interkulturelle Kommunikation und Journalistik wieder an der Freien Universität Berlin abgeschlossen. Ihre Praktika in London und Brighton haben ihren beruflichen Werdegang sowie ihre Weltanschauung noch mehr bereichert und erweitert. Die nachfolgenden Jahre hat sie sich dem kreativen Schreiben als freiberufliche Online-Autorin sowie der Arbeit als PR-Referentin gewidmet. Zum Glück hat sie den Weg zu unserer Freshideen-Redation gefunden und ist zurzeit ein wertvolles Mitglied in unserem motivierten Team. Ihre Freizeit verbringt sie gerne auf Reisen oder beim Wandern in den Bergen. Ihre kreative Seele schöpft dadurch immer wieder neue Inspiration und findet die nötige Portion innerer Ruhe und Freiheit.