Warum krumme Wände glücklich machen: Ein Handwerker packt aus
Ich weiß es noch wie heute. Als junger Spund im Blaumann stand ich zum ersten Mal vor einem dieser unglaublich bunten, organischen Gebäude in Magdeburg. Mein Meister, ein Mann, für den Wasserwaage und rechter Winkel heilig waren, schüttelte nur den Kopf. „Alles krumm und schief“, brummte er. Aber ich hab was anderes gesehen. Leben, Mut zur Farbe und eine handwerkliche Herausforderung, die mir Gänsehaut gemacht hat.
Inhaltsverzeichnis
- 0.1 Die Philosophie dahinter: Warum die gerade Linie nicht alles ist
- 0.2 Die Technik des Lebendigen: Wenn Bäume Miete zahlen
- 0.3 Der unebene Boden: Eine Melodie für die Füße
- 0.4 Organisch Bauen für Zuhause: Was du wirklich tun kannst
- 0.5 Die ehrliche Bilanz: Kosten, Aufwand und Grenzen
- 0.6 Ein Fazit aus der Werkstatt
- 1 Bildergalerie
Über die Jahre habe ich verstanden, dass hinter dieser Architektur mehr steckt als nur eine verrückte Idee. Es ist eine Philosophie, die uns Handwerkern Fragen stellt, die wir im Alltag oft vergessen: Warum bauen wir eigentlich so, wie wir bauen? Für wen? Und was hat das mit der Natur zu tun?
Keine Sorge, das hier wird kein kunsthistorischer Vortrag. Ich will dir als Handwerksmeister zeigen, was wirklich hinter den bunten Fassaden los ist. Es geht um die Technik, die Tücken und die Genialität, die es braucht, um solche Visionen in die Realität umzusetzen.

Die Philosophie dahinter: Warum die gerade Linie nicht alles ist
Um diese Bauten zu kapieren, muss man die Grundidee fühlen. Für die kreativen Köpfe dahinter war die gerade Linie ein Symbol für alles, was in unserer modernen Welt ein bisschen kalt und seelenlos ist. Sie argumentierten, die gerade Linie sei etwas für Maschinen, nicht für Menschen.
Schau dich mal in der Natur um. Wo findest du eine perfekte, schnurgerade Linie? Genau, nirgends. Alles wächst, bewegt sich, ist organisch. Unsere Bauweise mit ihren perfekten Winkeln und glatten Flächen ist dagegen oft das genaue Gegenteil.
Diese Denkweise hat ganz handfeste Auswirkungen auf der Baustelle. Sie bedeutet, dass die Wasserwaage eben nicht immer das wichtigste Werkzeug ist. Achtung, das heißt nicht, dass hier geschlampt wird! Ganz im Gegenteil. Es erfordert allerhöchstes Können, eine organische, unebene Fläche so zu bauen, dass sie stabil, langlebig und am Ende auch noch wunderschön ist.
Ein zentraler Gedanke ist die Idee der „fünf Häute“ des Menschen: die eigene Haut, die Kleidung, das Haus, das soziale Umfeld und die Natur. Das Haus als „dritte Haut“ soll uns schützen, aber nicht von der Welt abschotten. Es soll eine lebendige Verbindung zur Natur schaffen. Und genau das ist der Schlüssel zu allem, vom Fensterrecht bis zum Baum als Mitbewohner.

Die Technik des Lebendigen: Wenn Bäume Miete zahlen
Die Ideen klingen oft poetisch, aber ihre Umsetzung ist knallharte Ingenieurskunst und solides Handwerk. Du kannst nicht einfach einen Baum aufs Dach pflanzen und hoffen, dass es gut geht. Dahinter stecken präzise Berechnungen und die Einhaltung strengster technischer Regeln.
Der „Baummieter“: Ein grüner Mitbewohner mit Verantwortung
Die Vorstellung, dass Bäume aus den Fenstern wachsen, ist einfach grandios. Die Idee dahinter: Der Baum ist ein „Mieter“, der seine Miete zahlt, indem er Sauerstoff produziert, Schatten spendet und Lebensraum für Vögel und Insekten schafft. Für uns auf dem Bau bedeutet das vor allem eins: eine riesige Verantwortung.
Ganz ehrlich, der Unterschied zu einem normalen Flachdach ist gewaltig. Ein Standarddach braucht eine gute Abdichtung und das war’s im Groben. Bei einem Dach mit einem „Baummieter“ explodiert der Aufwand. Stell dir vor, ein kleiner Zierahorn wiegt mit seinem Pflanztrog und nasser Erde nach einem starken Regen schnell mal so viel wie ein Kleinwagen. Und dieses Gewicht parkt dann dauerhaft auf dem Dach oder Balkon. Die Statik muss also nicht nur das aushalten, sondern auch noch Reserven für Wind und Schneelast haben. Da gibt es null Kompromisse.

Und dann kommt der kritischste Punkt: die Abdichtung. Wasser ist der größte Feind jedes Gebäudes. Der Pflanztrog muss zu 1000 % dicht sein, und zwar für Jahrzehnte. Wir verwenden dafür spezielle, wurzelfeste Abdichtungsbahnen, oft aus synthetischem Kautschuk (EPDM), und verschweißen die Nähte penibel. Eine winzige undichte Stelle kann über Jahre unbemerkt bleiben und zu massiven Schäden führen, inklusive Schimmel in der Wohnung darunter. Das ist der Albtraum jedes Bauherrn.
Zusätzlich braucht es eine separate Wurzelschutzbahn, denn Baumwurzeln haben eine unglaubliche Kraft und können sich sogar durch Beton arbeiten. Und weil der Baum sich nicht selbst versorgen kann, müssen eine automatische Bewässerung und eine funktionierende Drainage her, damit die Wurzeln nicht im Wasser stehen und faulen. Das ist im Grunde ein hochkomplexes Gründachsystem im Mini-Format.
Das „Fensterrecht“: Deine Fassade, dein Reich (in der Theorie)
Eine weitere spannende Idee war das Recht für jeden Mieter, den Bereich der Fassade um sein Fenster herum selbst zu gestalten – so weit der Arm eben reicht. Malen, kacheln, schmücken, was auch immer. Das stellt natürlich unser modernes Baurecht komplett auf den Kopf.

In der Praxis gibt es da ein paar Hürden:
- Wärmedämmung: Moderne Fassaden sind hochkomplexe Systeme. Wenn du ein Wärmedämmverbundsystem hast, kannst du nicht einfach darauf herummalen oder Mosaike aufkleben. Jede unsachgemäße Bastelei kann die Dämmung beschädigen und teure Wärmebrücken erzeugen. Das widerspricht allen aktuellen Energie-Einspar-Gesetzen.
- Eigentumsrecht: Die Fassade gehört der Eigentümergemeinschaft. Da kann nicht einfach jeder machen, was er will. Das müsste offiziell beschlossen werden.
- Materialien: Welche Farbe hält? Sind die Fliesen frostsicher? Hält der Kleber? Falsche Materialwahl kann zu Abplatzungen und Feuchteschäden führen.
Bei den realisierten Gebäuden wurde das daher oft symbolisch gelöst: Die Bereiche um die Fenster sind schon ab Werk unterschiedlich gestaltet, um diese Idee der Individualität aufzugreifen. Ein echtes, unkontrolliertes „Do-it-yourself“ an der Fassade ist mit unseren Vorschriften kaum machbar.
Der unebene Boden: Eine Melodie für die Füße
Eine der radikalsten Ideen war der wellige, unebene Boden. Die Begründung: Ein glatter Boden ist eine Erfindung für Maschinen, aber die menschlichen Füße brauchen eine „Melodie“, eine Abwechslung. Auf der Baustelle ist das, gelinde gesagt, eine Herausforderung.

Normalerweise ziehen wir den Estrich, also die Schicht unter dem Bodenbelag, spiegelglatt ab. Einen unebenen Boden musst du dagegen richtig modellieren, während das Material noch feucht ist. Mit Kelle und Reibebrett formst du sanfte Wellen und Hügel. Das ist pure Handarbeit und erfordert ein unglaubliches Gespür.
Die Tücken liegen aber im Alltag:
- Möbel: Ein Schrank wackelt. Tische und Stühle müssen oft mit Filzgleitern ausgeglichen werden.
- Barrierefreiheit: Nach den heutigen Normen für barrierefreies Bauen sind solche Böden ein klares No-Go. Für Menschen mit Gehhilfen oder im Rollstuhl sind sie ein echtes Hindernis. Das muss man fairerweise sagen.
- Bodenbeläge: Fliesen auf Wellen zu legen, ist die hohe Kunst. Parkett oder Laminat? Fast unmöglich. Meistens werden Mosaike oder flexible Beläge wie Linoleum verwendet.
Ich hatte mal einen jungen Gesellen dabei, der ist fast verzweifelt. Er hatte in der Berufsschule gelernt, alles perfekt eben zu machen. Einen Boden absichtlich „falsch“ zu bauen, ging gegen seine ganze Ausbildung. Es hat gedauert, bis er verstanden hat, dass das eine andere Art von Perfektion ist: die Perfektion des Organischen.

Organisch Bauen für Zuhause: Was du wirklich tun kannst
Okay, du findest das alles super, aber du kannst ja schlecht deine Mietwohnung umbauen. Trotzdem kannst du dir ein kleines Stück dieser Philosophie nach Hause holen. Sicher und ohne Stress mit dem Vermieter.
Ein kleiner Tipp: Starte mit einem Mosaik! Das ist der perfekte Einstieg.
Dein erstes organisches Mosaik für eine Gehwegplatte im Garten:
Das ist ein tolles Wochenende-Projekt und kostet fast nichts. Du brauchst:
- Eine einfache Beton-Gehwegplatte (ca. 40×40 cm, gibt’s für unter 5 € im Baumarkt)
- Alte, bunte Tassen oder Fliesen vom Flohmarkt oder aus dem Keller
- Einen Hammer und eine alte Decke oder einen Stoffbeutel
- Schutzbrille (GANZ WICHTIG!)
- Flexiblen Fliesenkleber für außen (ein kleiner Sack, ca. 10-15 €)
- Fugenmörtel für außen (ca. 10 €)
- Einen alten Spachtel und einen Schwamm
Und so geht’s: Wickle die Tassen in die Decke und zerschlage sie vorsichtig mit dem Hammer. Die Bruchstücke sind dein Material. Dann mischst du den Fliesenkleber an und ziehst eine Schicht auf die Betonplatte. Jetzt drückst du die bunten Scherben in den Kleber – lass deiner Fantasie freien Lauf! Nach dem Trocknen verfugst du das Ganze, lässt es wieder trocknen und wäschst es sauber. Fertig ist dein erstes Unikat!

Eine andere Idee wäre eine kleine Ecke im Flur mit Lehmputz. Lehmputz ist ein fantastisches, natürliches Material, das du sogar organisch modellieren kannst. Es ist diffusionsoffen und sorgt für ein tolles Raumklima. Den bekommst du im Fachhandel für ökologische Baustoffe, oft auch schon fertig angemischt im Eimer.
Die ehrliche Bilanz: Kosten, Aufwand und Grenzen
Als Meister muss ich natürlich auch über Geld reden. Und ganz ehrlich: Diese Art zu bauen ist kein Schnäppchen.
Individuelle, organische Formen sind extrem arbeitsintensiv. Eine geschwungene Wand zu mauern und zu verputzen dauert locker eineinhalb bis doppelt so lange wie eine gerade. Rechne also mal mit Faktor 1,5 bis 2 bei den reinen Arbeitsstunden. Die vielen Details, Mosaike, unregelmäßigen Fenster – all das treibt die Kosten nach oben. Das ist eben Manufaktur, keine Serienfertigung.
Auch der Unterhalt ist anspruchsvoller. Begrünte Dächer und Baummieter brauchen Pflege, die Drainagen müssen regelmäßig gereinigt werden. Das verursacht laufende Kosten, die man einplanen muss.

Diese Architektur ist auch nicht für alles geeignet. Für ein Krankenhaus oder eine Fabrikhalle, wo Effizienz und Barrierefreiheit an erster Stelle stehen, sind die Konzepte nur schwer umsetzbar. Es ist eine Architektur für das Wohnen, für die Kultur, für Orte, an denen der Mensch im Mittelpunkt steht.
Ein Fazit aus der Werkstatt
Die Visionäre hinter dieser Architektur waren Träumer, ja. Aber ihre Träume waren aus solidem Material gebaut. Sie haben uns Handwerker gezwungen, über unsere Routinen nachzudenken und die Möglichkeiten unserer Baustoffe neu zu entdecken. Sie haben gezeigt, dass ein Haus mehr sein kann als eine Hülle. Es kann ein lebendiger Organismus sein, eine dritte Haut, die uns mit der Natur verbindet.
Auch wenn nicht jedes Haus aussehen kann wie das berühmte spiralförmige Wohnhaus in Darmstadt, können wir eine Menge davon lernen. Den Mut zur Farbe. Den Respekt vor der Natur. Und die Erkenntnis, dass wir für Menschen bauen. Und Menschen sind nun mal nicht gerade. Sie sind organisch, vielfältig und voller Leben.

Und jetzt du! Ich hab eine kleine Challenge für dich: Finde die langweiligste, geradeste Linie in deiner Wohnung. Und dann brich sie! Mit einer Pflanze, die darüber rankt, einem selbstgemalten Muster, einem bunten Tuch. Egal wie. Hauptsache, du bringst ein bisschen organisches Leben in deine Bude. Zeig mal her, was du draus machst!
Bildergalerie


Ein Baum als Mitbewohner – wie funktioniert das technisch?
Die Idee, Bäume direkt aus den Fenstern wachsen zu lassen, ist mehr als nur eine romantische Geste. Dahinter steckt eine durchdachte Technik: Speziell konstruierte, wannenartige Pflanztröge mit integrierten Drainageschichten und Bewässerungssystemen werden in die Bausubstanz eingelassen. Eine robuste Wurzelschutzfolie, ähnlich wie sie im professionellen Teichbau verwendet wird, verhindert, dass die Wurzeln das Mauerwerk beschädigen. Die Pflege und der regelmäßige Rückschnitt des „Baummieters“ sind übrigens oft in den Nebenkosten der Bewohner enthalten, um die Vision dauerhaft zu erhalten.

„Die gerade Linie ist gottlos und unmoralisch.“
Dieser radikale Satz von Friedensreich Hundertwasser war nicht nur eine künstlerische Provokation, sondern der Kern seiner gesamten Philosophie. Er sah in der geraden Linie, die mit dem Lineal gezogen wird, ein Symbol für eine sterile, unkreative und naturferne Gesellschaft. Seine Architektur ist der gebaute Gegenentwurf: eine Feier der organischen, unvorhersehbaren und lebendigen Kurve.

Die Kunst der krummen Fuge: Wer eine Hundertwasser-Fassade fliest, braucht mehr als nur handwerkliches Geschick. Die Herausforderungen liegen im Detail:
- Materialmix: Oft werden Bruchstücke von Fliesen, Keramikscherben oder sogar Spiegelsplitter verwendet. Kein Stück gleicht dem anderen, was die Verlegung zu einem Puzzle macht.
- Unebene Untergründe: Der Fliesenkleber muss wellenförmige Strukturen ausgleichen, was eine besondere Technik und viel Geduld erfordert.
- Fugenbild: Eine gerade Fuge ist tabu. Die Fugen folgen den organischen Formen und werden selbst zum Gestaltungselement, was ein hohes Maß an künstlerischem Gespür verlangt.

Das „Fensterrecht“: Eine der radikalsten Ideen Hundertwassers war das Recht jedes Bewohners, die Fassade rund um sein Fenster so weit zu gestalten, wie Arm und Pinsel reichen. Dies war für ihn ein fundamentaler Akt der Befreiung von der architektonischen Monotonie. Es ging darum, die persönliche Identität an der „dritten Haut“ des Menschen – dem Haus – sichtbar zu machen und sich seinen eigenen, individuellen Raum zurückzuerobern.

Glatter Estrich: Effizient und praktisch, ideal für Möbel und Maschinen. Er entspricht unserer Erwartung von einem „perfekten“ Boden.
„Melodie für die Füße“: Hundertwasser ließ Böden oft bewusst uneben, mit sanften Wellen gestalten. Seine Begründung: Ein solcher Boden stimuliert den Tastsinn der Füße, belebt den Gleichgewichtssinn und verbindet uns wieder mit dem Gefühl, auf natürlichem Erdboden zu gehen. Ein bewusster Bruch mit der Norm für ein intensiveres Wohnerlebnis.
- Leuchtende Farben, die nach Jahrzehnten kaum verblassen.
- Eine samtige, matte Oberfläche, die atmet.
- Eine unerreichte Langlebigkeit, die Rissbildung vorbeugt.
Das Geheimnis? Der konsequente Einsatz von reinen Mineralfarben. Statt auf Kunststoffdispersionen setzte man auf Silikatfarben, wie sie etwa von Herstellern wie Keimfarben angeboten werden. Diese Farben gehen durch Verkieselung eine untrennbare Verbindung mit dem mineralischen Putz ein, statt nur eine Schicht darauf zu bilden. Das macht sie extrem witterungsbeständig und farbecht – perfekt für eine Kunst, die für die Ewigkeit gedacht ist.




