Bauen mit Pappe? Was wie eine verrückte Idee klingt und was du wirklich damit anstellen kannst
In meiner Werkstatt riecht es meistens nach Holz, Leim und manchmal nach heißem Stahl. Das sind die Materialien, mit denen ich groß geworden bin, die ich in- und auswendig kenne. Als mir also das erste Mal jemand von einem riesigen Pavillon erzählte, der komplett aus Pappröhren gebaut wurde, muss ich ehrlich zugeben: Ich hab nur mit dem Kopf geschüttelt. Pappe! Für uns im Handwerk ist das normalerweise Verpackung, kein Baustoff.
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Aber dann hab ich gesehen, dass die visionären Architekten dahinter für ihre Arbeit die höchsten Auszeichnungen der Branche bekommen haben. Das hat mich stutzig gemacht. Ein guter Handwerker schaut nicht weg, nur weil etwas neu oder fremd ist. Er will es verstehen. Also habe ich mir das Ganze mal genauer angesehen – nicht mit der Brille des Architekturkritikers, sondern mit den Augen eines Praktikers, der sich fragt: Wie zur Hölle soll das funktionieren? Hält das wirklich? Und was können wir davon lernen?

Das Material: Vergiss den Pizzakarton
Das Wichtigste zuerst: Wenn die Profis von „Papier“ oder „Pappe“ sprechen, meinen sie nicht den Karton von deiner letzten Online-Bestellung. Die berühmten Pappröhren sind hoch entwickelte Bauteile. Im Grunde ist das ein Verbundwerkstoff. Recyceltes Papier wird in Bahnen ganz fest aufgewickelt und mit Spezialleim verklebt. Das Ergebnis ist eine unglaublich dichte und stabile Röhre, deren Wandstärke und Durchmesser exakt an die nötige Traglast angepasst werden.
Die Druckfestigkeit ist wirklich erstaunlich. So eine Röhre kann enorme Kräfte von oben aufnehmen, fast wie ein Holzpfosten. Ihre Schwäche liegt aber bei Kräften, die von der Seite kommen. Sie verbiegt sich leichter.
Kleiner Test gefällig? Nimm einen leeren Schuhkarton. Drück mal von oben drauf – ziemlich stabil, oder? Und jetzt versuch mal, ihn seitlich durchzubiegen. Merkst du den Unterschied? Genau das ist das Prinzip! Deshalb sieht man bei diesen Konstruktionen oft ganz viele dünne Röhren, die zusammen ein Gitter bilden. Die Last verteilt sich, anstatt auf einem einzigen Balken zu liegen. Ein altes Prinzip, das wir auch vom Fachwerk kennen.

Schutz vor den Erzfeinden: Wasser und Feuer
Klar, die zwei größten Feinde von Papier sind Wasser und Feuer. Das weiß jedes Kind. Die Lösung der Experten? Behandlung! Für die Wasserfestigkeit werden die Röhren oft in Paraffinwachs getaucht oder mit einem Polyurethanlack versiegelt. Das macht sie für eine ganze Weile wasserabweisend. Natürlich ist das kein Schutz für die Ewigkeit wie eine Klinkerfassade, aber für temporäre Bauten oder im Innenbereich reicht das locker.
Der Brandschutz ist eine größere Nuss, gerade wenn man an unsere deutschen Vorschriften denkt. Die Pappe wird mit Brandschutzmitteln, oft Boraten, imprägniert. Das sorgt dafür, dass das Material im Brandfall nur langsam verkohlt und nicht lichterloh in Flammen aufgeht. Es bildet sich eine schützende Kohleschicht. Aber um das klar zu sagen: Mit einer Stahlbetonwand ist das nicht zu vergleichen.
Die Konstruktion: Genial einfach, einfach genial
Das beste Material nützt nichts, wenn man es nicht verbauen kann. Und hier liegt, ehrlich gesagt, die wahre Meisterschaft. Die Systeme sind oft so clever und einfach, dass sie nach einer kurzen Einweisung von Freiwilligen aufgebaut werden können. Das ist es, was mich als Praktiker am meisten beeindruckt.

Da die Bauten federleicht sind, brauchen sie oft kein schweres Betonfundament. Bei Katastropheneinsätzen wurden schon mit Sand gefüllte Bierkisten als Fundament genutzt. Genial, oder? Billig, überall verfügbar und es hebt die Konstruktion vom feuchten Boden ab. Das ist konstruktiver Holzschutz 1×1: Halte dein Material trocken, dann hält es auch.
Der spannendste Teil ist aber immer die Verbindung der einzelnen Stäbe. Bei einem berühmten Ausstellungspavillon wurden die Pappröhren zum Beispiel mit Holzverbindern und Stahlseilen zu einem riesigen Gewölbe verspannt. Die Röhren nahmen den Druck auf, die Seile den Zug. Klassische Statik, nur eben mit einem radikal anderen Material. Das Beste daran? Nach der Veranstaltung wurde das ganze Ding recycelt und zu Schulheften verarbeitet. Wie genial ist das denn?!
Die Realität in Deutschland: Zwischen Vorschrift und Schneelast
Jetzt aber mal Butter bei die Fische: Könnte man so etwas in Deutschland bauen? Die ehrliche Antwort ist: Es ist verdammt schwierig, aber nicht komplett unmöglich.

Unsere Bauordnungen sind auf genormte Materialien wie Holz, Stahl und Beton ausgelegt. Für tragende Bauteile aus Pappe gibt es keine DIN-Norm. Man bräuchte eine extrem teure und langwierige „Zulassung im Einzelfall“. Dazu kommt unser Klima: Frost, Dauerregen und in manchen Regionen ordentlich Schnee auf dem Dach. Das ist eine ganz andere Hausnummer als ein Sommerregen.
Achtung, kleiner Tipp aus eigener, leidvoller Erfahrung: Unterschätzt niemals die Macht von Wasser! Ich hab mal aus Jux versucht, eine billige Pappröhre aus dem Baumarkt für ein kleines Vordach zu nutzen. Nach dem ersten richtigen Regen war das nur noch ein trauriger, brauner Brei. Für tragende Teile im Außenbereich: Finger weg ohne professionelle Planung und Genehmigung! Das ist nicht nur illegal, sondern lebensgefährlich.
Okay, kein Haus – aber was dann? Dein Einstieg ins Bauen mit Pappe
Jetzt denkst du dir sicher: „Toll, also kann ich gar nichts damit anfangen.“ Falsch! Im kleineren Maßstab ist das Material der Hammer. Aber wo kriegt man die Dinger überhaupt her?

- Für lau: Frag mal nett im nächsten Teppich- oder Stoffladen. Die werfen die dicken, stabilen Papprollen, auf denen der Stoff aufgewickelt ist, oft weg.
- Für kleines Geld: Im Baumarkt findest du sie unter „Schalungsrohre aus Pappe“. Die sind für Betonarbeiten gedacht, superstabil und kosten meist zwischen 10 € und 30 € für 2-3 Meter. Perfekt für DIY-Projekte!
- Für Profis: Es gibt Online-Händler, die sich auf Schwerlast-Papphülsen für die Industrie spezialisiert haben. Die sind aber deutlich teurer.
Im direkten Vergleich mit einem klassischen Kantholz ist die Pappröhre ein echter Spezialist. Bei Druck von oben ist sie, wie gesagt, brutal stark. Seitlicher Biegung gibt sie aber schneller nach. Dafür ist sie federleicht, oft günstiger im Preis pro Meter und lässt sich mit einer einfachen Säge bearbeiten. Für den Innenbereich ist sie also eine fantastische Alternative.
Mini-Projekt für dein Wochenende: Ein ultrastabiles Bücherregal
Lust bekommen? Hier ist eine Idee für den Einstieg. Du brauchst nur:

- 3-4 dicke Pappröhren (z.B. Schalungsrohre mit ca. 10-15 cm Durchmesser)
- Regalböden aus Sperrholz oder Leimholz aus dem Baumarkt
- Eine Stichsäge oder einen Fuchsschwanz
- Ein paar Holzschrauben und einen Akkuschrauber
Und so geht’s: Säge die Pappröhren alle auf die gleiche Länge. Das werden deine senkrechten Stützen. Dann legst du den untersten Regalboden auf den Boden und schraubst die Röhren von unten durch das Brett fest. Nächstes Brett drauflegen und von oben durch das Brett in die Röhren schrauben. Wiederholen, bis dein Regal die gewünschte Höhe hat. Fertig! Dauert vielleicht zwei Stunden und sieht mega aus.
Das wahre Fazit: Es geht um die Denkweise
Ich werde morgen wahrscheinlich kein Haus aus Pappe bauen. Die Hürden sind bei uns einfach zu hoch. Aber mein Blick auf Materialien hat sich für immer verändert. Diese innovativen Projekte sind eine ständige Erinnerung daran, nicht in alten Gewohnheiten festzustecken.
Sie stellen uns die Frage: Müssen wir immer alles so machen, wie wir es immer gemacht haben? Können wir nicht ressourcenschonender, cleverer und vor allem menschlicher bauen? Es geht darum, auch bei unseren gewohnten Materialien nach neuen, besseren Lösungen zu suchen. Und darum, Menschen in Not schnell und würdevoll ein Dach über dem Kopf zu geben.

Wenn ich heute ein Stück Pappe in die Hand nehme, sehe ich nicht mehr nur Verpackungsmüll. Ich sehe Potenzial. Und allein für diesen neuen Blickwinkel hat sich die Auseinandersetzung mit dieser verrückten Idee schon gelohnt.
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„Ich erfinde nichts Neues. Ich nutze nur existierendes Material auf eine andere Art und Weise.“
Dieses Zitat von Shigeru Ban fasst seine Philosophie perfekt zusammen. Es geht nicht um die Erfindung exotischer neuer Baustoffe, sondern darum, das Potenzial in alltäglichen, oft übersehenen Materialien wie Papier zu erkennen. Ein Denkanstoß, der weit über die Architektur hinausgeht und uns ermutigt, Konventionen zu hinterfragen.

Kann ich das mit Röhren aus dem Bastelladen nachbauen?
Ein klares Jein. Für dekorative Elemente wie einen Raumteiler oder ein kleines Regal sind stabile Pappröhren, wie sie etwa als Kern für große Stoffballen dienen, eine tolle Basis. Sobald es aber um tragende Strukturen geht – selbst bei einem kleinen Spielhaus im Garten – ist Vorsicht geboten. Die von Architekten wie Shigeru Ban verwendeten Röhren sind spezialgefertigte, hochverdichtete und imprägnierte Bauteile, deren Statik exakt berechnet ist. Für echte Bauprojekte ist die Expertise eines Statikers unerlässlich.

Pappröhre: Besteht aus gewickeltem, verleimtem Recyclingpapier. Extrem leicht, hohe Druckfestigkeit, nachhaltig im Rohstoff, benötigt aber Schutz vor Feuchtigkeit.
Brettsperrholz (CLT): Kreuzweise verleimte Massivholzplatten. Enorm tragfähig in alle Richtungen, schafft ein warmes Raumklima, ist aber deutlich schwerer und ressourcenintensiver.
Beide Materialien zeigen, wie durch intelligentes Schichten und Verkleben traditionelle Werkstoffe zu High-Tech-Baumaterialien werden.

- Eine warme, fast samtige Haptik.
- Eine hervorragende Akustik, die den Schall dämpft.
- Ein weiches, diffuses Lichtspiel auf den runden Oberflächen.
Das Geheimnis? Die Materialität selbst. Anders als kalter Beton oder glatter Stahl strahlt Pappe eine organische Ruhe aus. In Gebäuden wie der „Cardboard Cathedral“ in Christchurch wird diese sinnliche Qualität zur spirituellen Erfahrung. Man fühlt sich geborgen, fast wie in einem Kokon aus Papier.

Wussten Sie schon? Der niederländische Hersteller „Fiction Factory“ hat mit seinem „Wikkelhouse“ ein modulares Haus entwickelt, das fast vollständig aus Wellpappe besteht. 24 Lagen Pappe werden um eine Form gewickelt und mit einem umweltfreundlichen Kleber verbunden. Eine wasserdichte Folie und eine Holzverkleidung schützen die Konstruktion. Dies zeigt, dass die Idee vom Papierhaus keine einmalige Vision mehr ist, sondern bereits in kommerziellen, skalierbaren Produkten Anwendung findet.

Der Energieaufwand zur Herstellung von Baustahl ist rund 50-mal, der von Aluminium sogar 150-mal höher als der zur Herstellung von Baupappe.
Dieser gewaltige Unterschied in der „grauen Energie“ macht Pappe zu einem Champion der Nachhaltigkeit. Jede Tonne Material, die nicht erst unter massivem Energieeinsatz produziert werden muss, senkt den CO₂-Fußabdruck eines Gebäudes dramatisch – nicht nur im Betrieb, sondern bereits bei seiner Errichtung. Hinzu kommt die vollständige Recycelbarkeit am Ende des Lebenszyklus.

Natürlich muss das Material vor Wasser geschützt werden. Die von den Profis verwendeten Röhren erhalten oft eine mehrschichtige Behandlung, um sie widerstandsfähig zu machen:
- Imprägnierung: Eine Paraffinwachs-Behandlung kann die Röhren wasserabweisend machen.
- Versiegelung: Klare Polyurethan-Lacke, ähnlich wie bei einer Parkettversiegelung, bilden eine robuste, schützende Außenschicht, die die natürliche Optik des Materials erhält.
- Konstruktiver Schutz: Ein ausreichend großer Dachüberstand und ein solides Fundament, das die Röhren vom feuchten Boden abhebt, sind die wichtigste Verteidigungslinie.
Der Kosten-Mythos: Nur weil Pappe ein günstiger Rohstoff ist, bedeutet das nicht automatisch, dass ein Papp-Haus billig ist. Die Herstellung der spezialisierten, tragfähigen Röhren, die Ingenieursleistung und die notwendigen Schutzbehandlungen haben ihren Preis. Der wahre Kostenvorteil liegt oft woanders: im geringen Gewicht. Es ermöglicht schnellere Bauzeiten, leichtere Maschinen und oft ein einfacheres Fundament – alles Faktoren, die auf der Baustelle Zeit und somit erheblich Geld sparen.




