Die Werkstatt der großen Gefühle: Wie manche Geschichten echte Brücken bauen

von Aminata Belli
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Ganz ehrlich? In der Flut an Büchern, die jedes Jahr auf den Markt kommt, ist es verdammt schwer, den Überblick zu behalten. Ich habe in meinem Leben als Buchhändler und Lektor wirklich unzählige Manuskripte in den Händen gehalten. Trends kommen, Trends gehen. Aber nur ganz wenige Schreibende bleiben einem so nachhaltig im Gedächtnis. Es gibt da eine bestimmte Art von Autorin, deren Bücher mehr sind als nur Geschichten. Sie sind sorgfältig gebaute Welten, die auf einem tiefen Fundament aus Menschlichkeit ruhen.

Wenn ich eines dieser Bücher aufschlage, fühlt es sich an, als würde ich eine Werkstatt betreten. Eine, in der mit Worten, Erinnerungen und Kulturen gearbeitet wird, um etwas völlig Neues und doch Beständiges zu schaffen: Verständnis.

Viele im Verlagswesen schauen heute nur auf Verkaufszahlen. Verständlich, aber es greift viel zu kurz. Um die Magie hinter solchen Romanen zu verstehen, muss man das Handwerk erkennen. Man muss die Werkzeuge sehen, die benutzt werden. Deshalb will ich dich heute mit in so eine literarische Werkstatt nehmen. Wir schauen uns die Baupläne an, prüfen die Materialien und entdecken die Techniken, die diese Romane so unglaublich kraftvoll machen.

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Das Fundament: Wenn ein Ort zur Hauptfigur wird

Jeder gute Handwerker weiß: Das richtige Material ist die halbe Miete. Für diese besondere Art von Erzählkunst ist das Material oft eine ganze Stadt – Istanbul. Doch in den Händen einer Meistererzählerin ist Istanbul keine bloße Kulisse. Die Stadt atmet, sie hat eine Seele, eine Geschichte und unzählige Narben. Sie ist der Dreh- und Angelpunkt, von dem aus sich alles entfaltet.

Das ist kein Zufall. Die Stadt selbst ist ja eine Brücke zwischen Europa und Asien, zwischen Tradition und Moderne. Ein perfekter Nährboden für Geschichten. Nehmen wir zum Beispiel den Roman über die verflochtenen Schicksale einer türkischen und einer armenischen Familie. Die Stadt ist hier das Gefäß, das die verdrängten Erinnerungen an ein schmerzhaftes historisches Ereignis enthält. Die Autorin lässt uns die Gassen durch die Augen ihrer Figuren erleben. Wir riechen die Gewürze auf dem Basar, hören die Möwen über dem Bosporus und spüren die Hektik der großen Einkaufsstraßen. Das ist der Unterschied zwischen bloßer Beschreibung und echtem Erleben.

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Noch krasser wird es in dem Buch über eine sterbende Frau, die in den letzten Minuten ihres Lebens ihre Biografie über Sinneseindrücke wiedererlebt. Ihre Erinnerungen sind untrennbar mit den Gerüchen und Geschmäckern Istanbuls verbunden: der Duft von Kardamomkaffee, der Geschmack von salzigem Joghurt. Jeder dieser Eindrücke löst eine ganze Kette von Ereignissen aus. Die Stadt wird zum Gedächtnispalast. Eine geniale Technik, die uns zeigt, dass unsere Identität nicht nur im Kopf, sondern auch in den Orten und Dingen um uns herum verankert ist.

Kleiner Schreib-Tipp zum Ausprobieren: Nimm mal deine eigene Stadt oder dein Dorf. Beschreibe nicht nur, was man sieht. Frag dich stattdessen: Welchen Geruch verbindest du mit deiner Kindheit hier? Welches Geräusch mit Stress oder Freude? Welchen Geschmack mit einem besonderen Fest? Versuch mal, genau diese Sinneserinnerungen in eine kurze Szene einzubauen. Du wirst sehen, wie lebendig der Text sofort wird!

Dein Einstieg in diese Welt: Welches Buch passt zu dir?

Okay, jetzt hast du vielleicht Lust bekommen, aber fragst dich: Womit fange ich an? Kein Problem, hier ein kleiner Wegweiser, ganz ohne Spoiler:

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  • Für Fans von großen Familiengeschichten: Wenn du Lust auf eine tiefgründige Geschichte hast, die sich mit historischen Wunden und der Macht der Vergebung beschäftigt, dann greif zu dem Roman über die türkisch-armenische Familiengeschichte. Er ist emotional, vielschichtig und ein perfekter Einstieg.
  • Für spirituell Suchende: Dich reizen Philosophie und die großen Fragen des Lebens? Dann ist das Buch über die „vierzig Regeln der Liebe“ dein Ding. Es verwebt eine moderne Sinnsuche mit einer historischen mystischen Freundschaft und gibt unglaublich viele Denkanstöße für den eigenen Alltag.
  • Für Liebhaber des Magischen und Aktuellen: Wenn du eine ganz besondere, poetische Erzählweise magst, dann lies die Geschichte über den Zypernkonflikt, die unter anderem von einem Feigenbaum erzählt wird. Klingt verrückt? Ist es auch, aber auf die bestmögliche Weise. Es geht um Trauma, Natur und die unzerstörbare Kraft der Liebe.

Ein typisches Taschenbuch dieser Autorin kostet übrigens meist zwischen 12 € und 16 €. Du findest sie in jeder gut sortierten Buchhandlung oder natürlich online.

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Das Handwerk: Polyphonie und die Macht der Sprache

Ein gutes Fundament allein reicht nicht. Die Konstruktion muss stimmen. Die Romane dieser Schriftstellerin zeichnen sich oft durch komplexe, aber immer glasklare Erzählstrukturen aus. Statt einer einfachen, linearen Erzählung webt sie ein Netz aus verschiedenen Perspektiven und Zeitebenen. Das ist hohe Kunst.

Die Kunst der vielen Stimmen

Eine ihrer Lieblingstechniken ist die sogenannte Polyphonie. Heißt: Sie lässt viele verschiedene Stimmen gleichberechtigt zu Wort kommen. Im Roman über die sterbende Protagonistin wird die Geschichte nicht nur aus ihrer Sicht erzählt, sondern auch durch die Erinnerungen ihrer fünf besten Freunde. Jeder von ihnen repräsentiert eine andere Facette der Gesellschaft, oft eine Randgruppe. Durch diesen Chor entsteht ein unglaublich reiches Porträt, das eine einzelne Stimme niemals schaffen könnte. Es fühlt sich an, als würde man einem echten Gespräch lauschen.

Denk mal drüber nach: Wer sind die fünf Menschen in deiner persönlichen „Wasserfamilie“? Also die Freunde, die nicht blutsverwandt sind, aber trotzdem eine unersetzliche Säule in deinem Leben bilden? Diese Idee macht das Konzept sofort greifbar, oder?

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Brücken bauen zwischen den Sprachen

Eine weitere Besonderheit ist die Zweisprachigkeit der Autorin. Sie schreibt sowohl auf Türkisch als auch auf Englisch. Ihre späteren Romane verfasst sie oft zuerst auf Englisch. Das gibt ihr eine gewisse Distanz, um freier über heikle Themen wie Politik oder Sexualität zu schreiben. In ihren englischen Texten streut sie aber immer wieder türkische Wörter ein. Aber nicht, um exotisch zu klingen! Sondern weil es für bestimmte Gefühle einfach keine exakte Entsprechung gibt.

Wörter wie hüzün (eine Art tiefe, kollektive Melancholie) oder kismet (Schicksal) transportieren eine ganze Welt. Und sie meistert es, uns diese Welt zu erklären. Ein Anfänger würde schreiben: „Sie fühlte Hüzün.“ Die Meisterin schreibt: „Sie fühlte dieses tiefe, kollektive Hüzün, das wie der Nebel vom Bosporus in die Teestuben kroch und sich auf die Seelen der ganzen Stadt legte.“ Siehst du den Unterschied? Das ist kulturelle Übersetzung auf höchstem Niveau.

Kleiner Tipp: Falls dein Englisch gut ist, versuch mal, einen ihrer Romane im Original zu lesen. Du wirst einen ganz anderen Rhythmus spüren. Gerade bei diesen eingestreuten Wörtern fühlt man die Melodie der Ursprungssprache viel direkter.

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Der philosophische Kern: Humanismus für den Alltag

Viele moderne Romane kratzen nur an der Oberfläche. Diese hier haben eine spirituelle Tiefe, die sie von anderen abhebt. Die Quelle dafür ist oft der Sufismus, die mystische Tradition des Islam. Aber keine Sorge, du musst kein Theologe sein, um das zu verstehen. Die Autorin nutzt diese Philosophie nicht als Dogma, sondern als universelles Werkzeug für mehr Menschlichkeit.

Am deutlichsten wird das in „Die vierzig Regeln der Liebe“. Warum greift eine moderne, feministische Autorin auf eine jahrhundertealte Lehre zurück? Ganz einfach: In einer Welt, die von Polarisierung und Fanatismus zerrissen ist, bietet der Sufismus eine radikale Alternative. Er betont die universelle Liebe, die alle Grenzen überwindet. Er lehrt, dass es viele Wege zum Göttlichen gibt.

Was ich daran so bewundere, ist die praktische Anwendbarkeit. Die Regeln im Roman sind keine abstrakten Thesen, sondern konkrete Anleitungen. Regel Nummer vierzig zum Beispiel: „Ein Leben ohne Liebe ist bedeutungslos. Frage dich nicht, nach welcher Art von Liebe du suchen sollst […]. Trennungen führen nur zu mehr Trennungen. Liebe hat keine Etiketten, keine Definitionen. Sie ist, was sie ist, rein und einfach.“ Das ist eine Botschaft, die jeder versteht, egal woher er kommt.

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Haltung zeigen: Die Verantwortung des Erzählens

Gute Literatur entsteht nie im luftleeren Raum. Die besten Autorinnen und Autoren sind Seismografen ihrer Zeit. Sie scheuen sich nicht, zu den brennenden Fragen Stellung zu beziehen. Ihr Engagement für Frauenrechte, für die LGBTQ+-Community und für Meinungsfreiheit ist ein fester Bestandteil ihrer Arbeit.

Aber sie tut das selten mit dem erhobenen Zeigefinger. Ihre Waffe ist die Geschichte. Statt Traktate zu schreiben, erschafft sie Charaktere, deren Schicksale die Ungerechtigkeiten eines Systems sichtbar machen. In ihrer Heimat hat sie das schon in große Schwierigkeiten gebracht, bis hin zu Anklagen wegen „Beleidigung des Türkentums“. Wer bereit ist, für seine Worte notfalls vor Gericht zu stehen, gewinnt eine Autorität, die man nicht durch Preise, sondern nur durch Mut erwirbt.

Auch ihr Feminismus ist tief in den Geschichten verwurzelt. Sie zeigt starke, komplexe Frauen, die sich gegen patriarchale Strukturen auflehnen. Eine ihrer Protagonistinnen ist eine Sexarbeiterin – und wird mit einer Würde, Intelligenz und einem Lebenswillen porträtiert, der jedes Klischee untergräbt.

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Gut zu wissen: Wenn man über politisch so heikle Themen schreibt, ist die Recherche alles. Man merkt ihren Büchern an, dass sie akribisch arbeitet, mit Historikern, mit Zeitzeugen, mit Menschen aus allen Lagern spricht. Das verleiht ihren fiktiven Geschichten ein Fundament aus Authentizität. Auf Videoplattformen wie YouTube findet man übrigens einige spannende Interviews, in denen sie selbst über diese Gratwanderung spricht – absolut sehenswert!

Ein ehrlicher Blick: Kritik und Kontext

Kein Meister ist unfehlbar, und kein Werk ist frei von Kritik. Einige werfen ihr vor, sie würde für ein westliches Publikum schreiben und dabei Klischees bedienen. Ich persönlich finde diese Kritik nur teilweise berechtigt. Ja, sie schreibt für ein globales Publikum, aber um den Dialog zu fördern, nicht um sich anzubiedern.

Man kann ihren Stil gut mit dem eines anderen gefeierten türkischen Literaturnobelpreisträgers vergleichen. Während dieser oft intellektueller, melancholischer und stärker in der rein türkischen Literaturtradition verwurzelt ist, ist ihr Ansatz emotionaler, zugänglicher und offener für spirituelle Einflüsse. Beide sind auf ihre Weise unglaublich wichtig, sie spielen nur unterschiedliche Instrumente auf derselben großen Bühne.

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Fazit: Was von einer Brückenbauerin bleibt

So, das war unser kleiner Ausflug in die Werkstatt einer modernen Meistererzählerin. Wir haben gesehen, wie sie Orte als lebendiges Fundament nutzt, meisterhaft komplexe Strukturen errichtet und mit Sprache als präzisem Werkzeug umgeht. Wir haben den philosophischen Kern erkannt, der ihren Werken Stabilität verleiht. Und wir haben verstanden, dass ihre Arbeit immer auch ein mutiger Appell an unsere gemeinsame Menschlichkeit ist.

Sie ist eine Architektin des Mitgefühls in einer Zeit der Mauern. Ihre Bücher sind keine Flucht aus der Realität. Sie sind Einladungen, die Realität genauer und aus mehr Blickwinkeln zu betrachten. Sie lehren uns, dass die Geschichten der anderen auch unsere eigenen sind.

Und das, liebe Leute, ist der Grund, warum ihre Arbeit bleiben wird. Denn sie baut für die Ewigkeit, mit dem beständigsten aller Materialien: der menschlichen Seele.

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„Geschichten bringen uns zusammen, nicht erzählte Geschichten halten uns auseinander.“ – Elif Shafak

Dieser Gedanke ist der Schlüssel zum Verständnis solcher Romane. Sie sind keine Schnellstraßen, sondern verwinkelte Gassen, die zur Erkundung einladen. Nehmen Sie sich Zeit. Achten Sie auf die wiederkehrenden Symbole – ein Granatapfel, die Farbe eines Schals. Anstatt nur der Handlung zu folgen, versuchen Sie, die Atmosphäre aufzusaugen. Wie riecht die beschriebene Szene? Welche Geräusche sind im Hintergrund? Wer eine solche Geschichte liest, wird vom Konsumenten zum Mitreisenden und entdeckt die Brücken, die die Autorin sorgfältig gebaut hat.

Wie zwei Meister eine Stadt malen?

Elif Shafaks Istanbul: Eine pulsierende, polyphone Metropole. Ihre Romane, wie Der Bastard von Istanbul oder Unerhörte Stimmen, sind oft von einer spirituellen, fast mystischen Energie durchdrungen und geben den Stimmen von Frauen und Minderheiten Raum. Es ist ein Istanbul der Gefühle und der verborgenen Verbindungen.
Orhan Pamuks Istanbul: Ein melancholischer, introspektiver Ort. Der Nobelpreisträger erkundet in Werken wie Das Museum der Unschuld die Erinnerung und das türkische Konzept des Hüzün. Sein Istanbul ist ein Labyrinth aus Gassen und Gedanken. Zwei Perspektiven – beide unerlässlich, um die Seele dieser Stadt zu begreifen.