Das schmalste Haus der Welt? Was wir davon wirklich für ZUHAUSE lernen können
In meiner Zeit als Handwerksmeister hab ich wirklich schon einiges auf Baustellen erlebt. Kernsanierungen, bei denen man am liebsten wieder zugemacht hätte, oder Neubauten, die auf dem Papier aussahen wie ein Kinderspiel. Aber ein Projekt, das vor einiger Zeit umgesetzt wurde, toppt ehrlich gesagt alles. Man kennt es als „das schmalste Haus der Welt“. Für mich ist es aber vor allem ein geniales Lehrstück darüber, was technisch geht, wenn man die Regeln bis zum Anschlag ausreizt.
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Ich weiß noch, wie die ersten Bilder davon die Runde machten. Ein Kollege schickte sie mir und fragte nur: „Hält das überhaupt?“ Völlig berechtigte Frage! An seiner dicksten Stelle ist das Ding gerade mal 1,52 Meter breit. An der schmalsten sogar nur 92 Zentimeter. Stell dir das mal vor! Nimm mal ein Maßband und miss das ab. Könntest du da wohnen? Es ist eingeklemmt zwischen einer alten Ziegelmauer und einem typischen Betonbau aus der Moderne – eine gebaute Brücke zwischen zwei Epochen, mitten in einer alten Narbe der Stadt. Als Praktiker sehe ich da aber nicht nur die Kunst, sondern vor allem die massiven technischen Hürden.

Die Idee dahinter: Mehr als eine clevere Notlösung
Bevor wir uns in die Statik stürzen, müssen wir eins klarstellen: Offiziell ist dieses Bauwerk keine dauerhafte Wohnstätte, sondern eine Kunstinstallation. Und das ist kein Zufall. Es ist die einzige ehrliche Antwort auf die strengen Bauvorschriften, die wir hierzulande haben.
In Deutschland würde so ein Projekt an den Landesbauordnungen krachend scheitern. Da gibt es klare Regeln: Aufenthaltsräume brauchen eine Mindestgröße und genug Fensterfläche. Und ganz wichtig: Du brauchst in der Regel einen zweiten, unabhängigen Fluchtweg. Dieses Mikro-Haus erfüllt quasi nichts davon. Die Wohnfläche ist winzig, die Fenster sind eher Lichtbänder und einen zweiten Fluchtweg? Fehlanzeige. Aber genau das macht es ja so spannend.
Warum also der ganze Aufwand? Es ist das extremste Beispiel für „Nachverdichtung“, das ich kenne. In unseren Städten wird jeder Quadratmeter Gold wert. Dieses Projekt zeigt, dass selbst die unmöglichsten Restflächen irgendwie nutzbar sind – wenn auch mit harten Kompromissen. Die Architekten wollten hier aber auch die Geschichte des Ortes sichtbar machen. Die Baulücke war wie eine Wunde im Stadtbild, eine Erinnerung an vergangene Zerstörungen. Das Haus ist wie ein Verband, der diese Wunde nicht versteckt, sondern betont.

Statik für Fortgeschrittene: Ein Drahtseilakt für Ingenieure
Kommen wir zum Eingemachten, der Statik. Wie zum Teufel sorgt man dafür, dass eine so hohe, dünne Struktur nicht beim ersten Herbststurm umkippt? Die Antwort ist eine superleichte, aber extrem stabile Stahlrahmenkonstruktion.
Das Fundament: Ankern im Ungewissen
Ein normales Fundament aus Beton war hier unmöglich. Der Platz war zu eng, und die Gefahr, die Fundamente der Nachbarhäuser zu beschädigen, wäre gigantisch gewesen. Man gräbt nicht einfach metertief neben einem alten Ziegelbau. Die Lösung sind sogenannte Mikropfähle. Das sind schmale Bohrpfähle, die tief in den tragfähigen Boden getrieben werden. Sie leiten die Last des Hauses punktuell ab, ohne die Nachbarn zu stören. Eine saubere, aber auch teure Methode. Nur damit du eine Vorstellung hast: Bei Mikropfählen redet man schnell über 150 bis 250 Euro pro laufendem Meter. Das läppert sich ordentlich!
Die Tragstruktur: Leicht und stark wie ein Skelett
Stell dir die ganze Konstruktion wie ein dreidimensionales Skelett aus Stahlprofilen vor. Stahl war hier die einzige Wahl, weil er ein unschlagbares Verhältnis von Festigkeit zu Gewicht hat. Holz oder gar Ziegel? Völlig undenkbar, jeder Millimeter Wandstärke zählt hier. Diese Stahlzelle ist das eigentliche Haus. Eine riesige Herausforderung waren dabei die Windlasten. Man denkt vielleicht, zwischen zwei Häusern ist es windstill, aber oft ist das Gegenteil der Fall. Die Lücke wirkt wie eine Düse und beschleunigt den Wind. Diese Kräfte zerren an der Fassade und versuchen, die Struktur zu verdrehen. Das auszurechnen, ist anspruchsvolle Ingenieurskunst.

Verbindung zu den Nachbarn: Festhalten oder Abstand wahren?
Eine entscheidende Frage: Ist das Haus an den Nachbargebäuden befestigt? Aus Statikersicht wäre das verlockend, aber auch extrem riskant. Jedes Gebäude bewegt sich – dehnt sich bei Hitze aus, zieht sich bei Kälte zusammen. Ein alter Ziegelbau „atmet“ ganz anders als ein massiver Betonklotz. Würde man das schmale Haus starr an beide anbinden, würden gewaltige Kräfte entstehen. Risse und Schäden wären vorprogrammiert.
Die professionelle Lösung ist deshalb eine kontrollierte Entkopplung. Das Haus steht für sich allein. Zu den Nachbarn wird ein kleiner, definierter Abstand gehalten, eine sogenannte Gebäudefuge. Diese wird mit komprimierbaren Dämmstoffen gefüllt, die die Bewegungen ausgleichen. Ich erinnere mich an eine Garage, da hat der Bauherr die Dehnungsfuge zum Haus gespart, um ein paar Euro zu sparen. Nach zwei Wintern hatte er einen zentimeterbreiten Riss in der Wand. Ein teurer Fehler! Bei diesem Projekt hier war die saubere Ausführung dieser Fugen das A und O.

Material & Konstruktion: Wenn jeder Millimeter zählt
Bei so wenig Platz kann man nicht einfach eine Palette Ziegel anliefern und losmauern. Der Bau war ein Akt der Präzision und Vorfertigung.
Die Außenhülle: Lichtdurchlässig und federleicht
Die Fassade besteht aus halbtransparenten Polycarbonat-Stegplatten. Eine geniale Wahl! Erstens sind die Platten extrem leicht, was die Last auf das Fundament reduziert. Zweitens lassen sie diffuses Tageslicht rein, ohne dass man direkt hineinsehen kann – perfekt für die Privatsphäre. Und drittens haben moderne Stegplatten durch ihre Kammern einen erstaunlich guten Dämmwert. Sie halten die winzige Bude im Winter warm und im Sommer halbwegs kühl.
Achtung: Die Montage solcher Platten erfordert absolute Sorgfalt. Die Anschlüsse und Dichtungen müssen perfekt sitzen, um Wärmebrücken zu vermeiden. In einem so kleinen Raum spürst du jede kalte Ecke sofort – und siehst es auf der Heizkostenabrechnung.
Der Bauablauf: Ein Puzzle in der Baulücke
Das Haus wurde natürlich nicht vor Ort gebaut. Es wurde in großen Teilen in einer Werkstatt vorgefertigt. Der fertige Stahlrahmen, vermutlich schon mit Fenstern und Fassadenteilen, wurde dann per LKW angeliefert und mit einem Kran in die Lücke gehoben. Das erfordert eine millimetergenaue Planung und einen Kranführer mit Nerven aus Stahlseilen. Jeder Handgriff muss sitzen.

Leben auf engstem Raum: Der ultimative Kompromiss
Ein Haus ist mehr als eine Hülle. Es braucht Strom, Wasser, Heizung. Auf 1,5 Metern Breite wird das zur absoluten Kunstform.
- Wasser & Abwasser: Ein riesiges Problem ist das Abwasser. Da das Haus höher liegt als der Kanalanschluss in der Straße, braucht man eine Hebeanlage. Das ist eine Pumpe, die das Abwasser nach oben drückt. Eine einfache Hebeanlage nur für ein WC bekommst du schon ab 400 Euro im Baumarkt, aber für ein ganzes Mini-Haus wird es schnell vierstellig. Und die Dinger brauchen Wartung!
- Heizung & Lüftung: Das ist der kritischste Punkt. Ein so kleiner, dichter Raum MUSS kontrolliert belüftet werden. Fenster auf? Alles kühlt sofort aus. Fenster zu? Die Luft wird schlecht und Schimmel ist quasi garantiert. Die einzig sinnvolle Lösung ist eine mechanische Lüftung mit Wärmerückgewinnung. Die sorgt für Frischluft und spart Energie. Geheizt wird wahrscheinlich elektrisch, zum Beispiel mit einer kleinen Infrarotheizung.
Kleiner Tipp für dein Projekt: Auch wenn dein Keller- oder Dachausbau nicht ganz so extrem ist – bei kleinen, gut gedämmten Räumen ist eine mechanische Lüftungsanlage (kleine dezentrale Geräte gibt es schon ab ca. 500 €) fast immer die bessere Wahl als reines Fensterlüften. So vermeidest du Schimmel von Anfang an!

Die Einrichtung: Alles nach Maß
Standardmöbel von IKEA? Vergiss es. Hier ist alles eine Maßanfertigung. Der untere Teil der Treppe ist sogar eine ausfahrbare Stiege mit Fernbedienung. Clever, aber auch eine potenzielle Fehlerquelle. Was passiert bei Stromausfall? Man braucht immer einen Plan B. Die Leiter zum Schlafbereich ganz oben ist jedenfalls nur was für sportliche Leute.
Das Fazit: Eine Lektion in Möglichkeiten und Grenzen
Was lernen wir also aus diesem extremen Bauwerk? Es ist ein faszinierendes Experiment, das uns Handwerkern und Planern zeigt, was mit modernen Materialien und cleverer Ingenieurskunst alles geht. Es inspiriert, auch für schwierige Grundstücke kreative Lösungen zu finden und ist quasi ein Urahn der Tiny-House-Bewegung.
Gleichzeitig ist es aber auch eine ehrliche Mahnung. Es zeigt uns, warum es Bauvorschriften gibt. Die sind keine Schikane, sondern das Ergebnis von Jahrzehnten an Erfahrung – oft aus Bauschäden und Unfällen gelernt. Sie garantieren Sicherheit, Gesundheit und eine grundlegende Wohnqualität.

Am Ende bleibt dieses Projekt das, was es sein soll: ein beeindruckendes Kunstwerk. Eine begehbare Skulptur, die zum Nachdenken anregt. Aber ganz ehrlich? Fürs tägliche Leben ziehe ich dann doch eine Wohnung vor, in der ich mich umdrehen kann, ohne anzustoßen.
Bildergalerie


In Tokio beträgt die durchschnittliche Wohnungsgröße nur rund 65 Quadratmeter – Tendenz fallend.
Was im polnischen Warschau als Kunstinstallation begann, ist in Metropolen wie Tokio längst architektonischer Alltag. Dort hat sich für solche Projekte der Begriff „Kyosho Jutaku“ (Mikro-Haus) etabliert. Architekturbüros wie Atelier Tekuto zeigen mit ihren Entwürfen, wie man auf Grundstücken, die kaum breiter als ein Parkplatz sind, vollwertige und oft erstaunlich lichtdurchflutete Wohnräume schafft. Es ist der Beweis, dass radikale Platznot zu maximaler Kreativität führen kann.

Wie vermeidet man in einem so schmalen Raum das Gefühl, erdrückt zu werden?
Das Geheimnis liegt in der gezielten Steuerung von Licht und Wahrnehmung. Statt auf massive Wände setzten die Architekten des Keret-Hauses auf transluzentes Polycarbonat. Dieses Material flutet den Innenraum mit diffusem, weichem Tageslicht, ohne direkte Einblicke zu gewähren und die Privatsphäre zu opfern. Kombiniert mit einer reinweißen Farbpalette, die das Licht maximal reflektiert, und strategisch platzierten Spiegeln wird die Enge optisch aufgebrochen. Jeder Quadratzentimeter Oberfläche wird so zur potenziellen Lichtquelle.
Standardmöbel: Sie sind starr und definieren einen Raum permanent. Ein klassisches 90x200cm Bett beansprucht seine Fläche rund um die Uhr, auch wenn es nur acht Stunden genutzt wird.
Transformationsmöbel: Sie passen sich dem Tagesablauf an. Ein Schrankbett wie das „Kali Duo“ von Clei oder das „Poppi Theatre“ von Resource Furniture verschwindet tagsüber in der Wand und gibt den Raum für einen Schreibtisch oder eine Sitzgelegenheit frei.
In extremen Räumen ist nicht das einzelne Möbelstück entscheidend, sondern seine Fähigkeit zur Verwandlung.


