Chicago für Kenner: Ein Blick hinter die Fassaden aus Stahl und Glas

von Mareike Brenner
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Ich erinnere mich noch gut an meinen ersten Trip nach Chicago. Das war keine Urlaubsreise, sondern eine Einladung von einem Ingenieurskollegen zu einer Fachtagung. Als deutscher Handwerksmeister bin ich ja solide Bauten gewohnt. Ich kenne den Geruch von frischem Beton und das Gefühl von kaltem Stahl in den Fingern. Aber Chicago? Das war eine völlig andere Hausnummer.

Die schiere Größe der Gebäude, die da in den Himmel wachsen, hat selbst mich umgehauen. Man steht in diesen Straßenschluchten, blickt nach oben und fühlt sich plötzlich winzig. Doch es ist nicht nur die Höhe. Es ist die Geschichte, die man in den Fassaden lesen kann, wenn man weiß, wonach man suchen muss.

Viele Touristen kommen her, machen das obligatorische Foto vor der „Bohne“ (Cloud Gate) und das war’s. Sie kratzen nur an der Oberfläche. Aber die wahre Seele dieser Stadt, die steckt tiefer – in ihren Fundamenten, in ihrem Stahlskelett und in den genialen Ideen, die sie geformt haben. In meiner Werkstatt sage ich meinen Lehrlingen immer: Ein Möbelstück verstehst du erst, wenn du seine Konstruktion durchschaust. Genau dasselbe gilt für eine Stadt wie Chicago. Wir blicken jetzt mal zusammen unter die Haut. Vergiss die typischen Reiseführer, wir schauen uns das an, wie ein Handwerker es tun würde: von Grund auf.

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Das Fundament: Bauen auf Schlamm nach dem großen Feuer

Um Chicago zu kapieren, muss man eine Sache wissen: Nach einem verheerenden Brand lag die Stadt quasi in Schutt und Asche. Eine Katastrophe, klar. Aber eben auch eine leere Leinwand, eine riesige Chance. Die Ingenieure und Architekten damals standen vor zwei riesigen Problemen. Erstens: Sie mussten schnell und sicher neu bauen. Zweitens, und das ist der Knackpunkt: Der Baugrund in Chicago ist eine Katastrophe. Im Grunde ist es weicher, sumpfiger Lehm, den die Einheimischen liebevoll „Chicago mud“ nennen.

Bei uns in Deutschland graben wir, bis wir auf tragfähigen Boden oder Fels stoßen. Das war hier kaum eine Option. Die ersten Hochhäuser mit ihren massiven Steinfundamenten sanken einfach langsam in den weichen Boden ein. Ein beeindruckendes Beispiel dafür ist das Monadnock Building, ein gewaltiger Ziegelbau. Dessen Wände im Erdgeschoss sind fast zwei Meter dick, nur um das Gewicht zu tragen. Kannst du dir vorstellen, was für eine Last da auf dem Boden liegt?

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Die geniale Lösung: Schwimmen statt Sinken

Also mussten die Profis umdenken. Statt tiefer zu graben, haben sie das Gewicht einfach breiter verteilt. Sie entwickelten die sogenannte „schwimmende Gründung“. Stell dir das wie ein Floß vor: Ein Gitter aus Stahlträgern, das in Beton gegossen und unter dem gesamten Gebäude platziert wird. Dieses Fundament verteilt die Last auf eine so große Fläche, dass der Druck pro Quadratmeter gering genug ist, um nicht im Schlamm zu versinken. Ein simples physikalisches Prinzip, aber man muss erst mal drauf kommen.

Später kam dann die Caisson-Gründung dazu. Hier bohrte man tiefe Schächte, oft 30 Meter oder mehr, bis hinunter zum festen Fels. Diese Löcher wurden dann mit Beton gefüllt. Das Gebäude steht auf diesen Betonpfeilern quasi wie auf Stelzen. Das war der eigentliche Durchbruch für die echten Wolkenkratzer. Ganz ehrlich, als Handwerker ziehe ich vor diesem Pragmatismus meinen Hut. Die haben nicht gejammert, sondern eine Lösung für ein verdammt schwieriges Problem gefunden.

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Die Revolution: Das Stahlskelett verändert alles

Das zweite entscheidende Puzzleteil war die Konstruktion selbst. Traditionell waren ja die Mauern eines Gebäudes tragend. Je höher das Haus, desto dicker die Wände unten. Das setzt der Höhe und der Fenstergröße natürliche Grenzen. In Chicago entstand nach dem Brand die Idee des Stahlskelettbaus – und das war vielleicht der wichtigste Beitrag der Stadt zur modernen Architektur überhaupt.

Stell es dir wie ein menschliches Skelett vor. Unsere Knochen tragen das Gewicht, die Haut ist nur die Hülle. Genau so funktioniert das hier auch. Ein inneres Gerüst aus Stahlträgern trägt das gesamte Gewicht des Gebäudes – Decken, Fassade, einfach alles. Die Außenwände haben plötzlich keine tragende Funktion mehr. Sie sind nur noch ein vorgehängter Vorhang, eine „Curtain Wall“, die vor Wind und Wetter schützt.

Vorteile, die jeder Praktiker sofort erkennt

Diese Bauweise hatte enorme Vorteile, die wir heute noch nutzen:

  • Mehr Höhe: Plötzlich konnte man viel, viel höher bauen. Stahl hat im Verhältnis zu seinem Gewicht eine immense Festigkeit.
  • Mehr Tempo: Die Stahlteile wurden in der Fabrik vorgefertigt und auf der Baustelle nur noch zusammengesetzt. Das hat unglaublich viel Zeit gespart.
  • Mehr Licht: Weil die Wände nichts mehr tragen mussten, konnte man riesige Fenster einbauen. So entstand das berühmte „Chicago Window“: eine große, feste Scheibe in der Mitte, flankiert von zwei schmaleren, beweglichen Flügeln zum Lüften.
  • Mehr Freiheit: Innenräume ließen sich viel offener gestalten, da weniger tragende Wände im Weg waren.

Wenn ich heute mit meinen Azubis über moderne Bauweisen rede, komme ich immer wieder auf diese Pionierzeit in Chicago zurück. Hier wurden die Grundlagen für das gelegt, was wir heute als selbstverständlich ansehen.

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Zwei Stile, eine Stadt: Von Ornamenten zu Stahl und Glas

Aus diesen technischen Neuerungen entwickelte sich ein ganz eigener Stil. Ein berühmter Visionär prägte damals den Satz „form follows function“ – die Form folgt der Funktion. Ein radikal neuer Gedanke! Ein Gebäude sollte nicht mehr aussehen wie ein griechischer Tempel, sondern seine Gestalt sollte aus seinem Zweck und seiner Konstruktion erwachsen.

Das heißt aber nicht, dass die Gebäude schmucklos waren, im Gegenteil. Wenn du durch die Stadt gehst, achte mal auf die Merkmale dieser Epoche: eine klare Gliederung der Fassade, die das innere Skelett andeutet, die großen dreiteiligen Fenster und oft Verkleidungen aus Terrakotta. Das ist gebrannter Ton – leicht, feuerfest und ideal für die nicht-tragenden Wände. Ein Spaziergang durch den „Loop“, das Stadtzentrum, ist wie eine Live-Lehrstunde in Architekturgeschichte.

Die zweite Welle: Minimalismus aus Deutschland

Nach dem Zweiten Weltkrieg kam dann eine zweite architektonische Revolution nach Chicago, und die hatte einen starken deutschen Einfluss. Ein wegweisender Architekt, der das berühmte Bauhaus geleitet hatte, brachte eine radikal andere Philosophie mit: „Weniger ist mehr“.

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Er trieb die Idee des Skelettbaus auf die Spitze. Bei ihm wurde das Stahlskelett zum wichtigsten Gestaltungselement. Man sollte sehen, wie ein Gebäude gemacht ist. Seine Bauten sind die reine Verkörperung von Stahl und Glas. Als deutscher Meister fühle ich da eine gewisse Verbindung. Diese Besessenheit für Präzision, die sauberen Fugen, die exakten Details… das erinnert mich an unsere Qualitätsansprüche. Bei seinen Gebäuden gibt es keinen Putz, der kleine Fehler verdeckt. Alles ist sichtbar. Eine solche Fassade zu bauen, erfordert absolute Perfektion bei Fertigung und Montage. Manchmal wurden sogar I-Träger außen an die Fassade geschweißt, die gar keine tragende Funktion hatten – nur, um die innere Struktur außen sichtbar zu machen und der Fassade einen Rhythmus zu geben. Genial, oder?

Deine Meister-Tour: Chicago mit Handwerker-Augen entdecken

Okay, genug der Theorie. Wenn du jetzt selbst hinfährst, wie gehst du es am besten an? Hier ist mein ganz persönlicher Plan für dich, um mehr zu sehen als der durchschnittliche Tourist.

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Der Quick-Win für Eilige (und Sparfüchse)

Du hast nur eine Stunde Zeit? Kein Problem. Geh direkt ins Chicago Cultural Center. Der Eintritt ist frei und die riesige Tiffany-Glaskuppel wird dich umhauen. Ein Wahnsinns-Wow-Effekt in 15 Minuten, versprochen!

Die beste Einführung: Erst Boot, dann Bahn

Ich bin oft skeptisch bei Touri-Attraktionen, aber die Architektur-Bootsfahrt auf dem Chicago River ist jeden Cent wert. Vom Wasser aus siehst du die Gebäude in einem völlig neuen Licht. Kleiner Tipp: Die Touren vom Chicago Architecture Center sind fachlich unschlagbar, weil die Guides oft selbst Architekten sind. Rechne mal mit 50-60 € pro Person, aber das ist wirklich gut investiertes Geld. So eine Tour dauert etwa 90 Minuten und gibt dir den perfekten Überblick.

Und hier noch ein Spar-Tipp vom Profi: Kauf dir ein Ticket für die Hochbahn („L“) und fahr eine komplette Runde mit der „Brown Line“ durch den Loop. Für ein paar Dollar bekommst du eine Perspektive auf die Fassaden im zweiten und dritten Stock, die du von der Straße aus niemals hättest. Fast wie die Bauzeichner damals am Reißbrett.

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Die „Meister-Walking-Tour“ durch den Loop

Nach dem Überblick zu Fuß ins Detail. Nicht nur nach oben starren, sondern auch mal auf die Eingangsbereiche achten. Aus welchem Material sind sie gemacht? Granit, Messing, Marmor? Die Lobbys sind oft öffentliche Kunstwerke. Hier sind drei, in die du einfach reingehen musst:

  • The Rookery Building: Von außen ein massiver Block, aber innen erwartet dich ein lichtdurchfluteter Hof, der von filigranen Eisenkonstruktionen getragen und später von einem Star-Architekten genial umgestaltet wurde. Ein Muss!
  • Marquette Building: Die Lobby hier ist berühmt für ihre riesigen, detaillierten Mosaike, die die Geschichte der Region erzählen. Absolute Handwerkskunst.
  • Palmer House Hilton: Das ist zwar ein Hotel, aber geh einfach rein und schau dir die Decke in der Lobby an. Mehr sage ich nicht.

Wenn du mit diesen Handwerker-Augen unterwegs bist, achte mal auf diese Top-5-Details:

  1. Die unglaublich verspielten Gusseisen-Ornamente an den unteren Stockwerken des alten Carson, Pirie, Scott Kaufhauses. Ein Wahnsinns-Kontrast zur klaren Fassade darüber.
  2. Die sichtbaren Schweißnähte und perfekten Anschlüsse an den Stahlträgern der minimalistischen Bauten, zum Beispiel am Federal Center.
  3. Die verschiedenen Farben des „Chicago Common Brick“, ein lokaler Ziegelstein mit Farbtönen von Rosa bis Gelb, der vielen älteren Gebäuden ihren Charakter gibt.
  4. Die Mechanik der alten Drehtüren aus Messing. Oft sind das noch Originale und technische Meisterwerke.
  5. Die Terrakotta-Details an den Fassaden. Finde heraus, wo die Ornamente nur Deko sind und wo sie geschickt Fugen oder Übergänge kaschieren.
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Ein paar ehrliche Warnungen zum Schluss

Chicago ist eine sichere Stadt, aber mit gesundem Menschenverstand ist man immer besser unterwegs. Ein paar Dinge, die mir als Praktiker aufgefallen sind:

Achtung, Baustellen! Chicago ist ständig im Wandel. Betritt niemals eine Baustelle ohne Erlaubnis. Auch wenn es interessant aussieht, die Sicherheitsstandards sind anders als bei uns.

Schau nach unten, bevor du nach oben schaust. Bleib stehen, wenn du eine Fassade bewunderst. In der Hektik der Innenstadt stolpert man schnell mal über eine Gehwegkante.

Vorsicht im Winter. An den hohen Fassaden können sich massive Eiszapfen bilden. Achte auf Warnschilder und Absperrungen.

Was wir von Chicago lernen können

Meine Reisen nach Chicago haben meinen Blick auf das Bauen nachhaltig geprägt. Diese Stadt ist ein lebendiges Museum und gleichzeitig ein Labor für die Zukunft. Sie zeigt, dass aus Zerstörung Innovation entstehen kann und dass technische Notwendigkeiten zu einer eigenen, kraftvollen Schönheit führen können.

Für mich als Meister ist Chicago eine ständige Inspiration. Es erinnert mich daran, dass unser Handwerk mehr ist als das Befolgen von Plänen. Es geht um Problemlösung, um Materialverständnis und um den Mut, neue Wege zu gehen. Ob es die kühne Statik eines Wolkenkratzers ist oder die perfekte Holzverbindung an einem Stuhl – am Ende geht es immer um die Leidenschaft für gut gemachte Arbeit. Und davon findest du in Chicago mehr als genug. Du musst nur genau hinschauen.

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Das Home Insurance Building von 1885 gilt als der erste Wolkenkratzer, der ein Stahlskelett als tragende Struktur nutzte. Ein Meilenstein, der alles veränderte.

Diese Innovation war die direkte Antwort auf die Probleme, die massive Bauten wie das Monadnock Building verursachten. Statt auf schierer Masse und meterdicken Mauern, die in den Boden sanken, ruhte die Last nun auf einem inneren Skelett aus vernietetem Stahl. Die Außenmauern wurden zur reinen „Vorhangfassade“ (Curtain Wall), die nur noch sich selbst und den Wind tragen musste. Plötzlich waren größere Fensterflächen möglich und vor allem: eine bis dahin unvorstellbare Höhe auf dem notorisch weichen Baugrund Chicagos.

Der beste Blickwinkel auf Stahl, Glas und Beton?

Vergessen Sie für einen Moment die Straßenschluchten. Um die Baukunst wirklich zu würdigen, muss man die Perspektive wechseln – und zwar vom Wasser aus. Die offizielle Bootstour des Chicago Architecture Center ist kein gewöhnlicher Touristen-Törn. Hier erklären Ihnen geschulte Experten die kühnen Ingenieursleistungen hinter den Fassaden, vom Art-déco-Schmuckstück des Carbide & Carbon Building bis zur fließenden Form des Aqua Tower von Jeanne Gang. Vom Chicago River aus erschließt sich die Skyline als ein zusammenhängendes, gewachsenes Meisterwerk, dessen Statik und Geschichte erst aus der Distanz wirklich greifbar werden.

Mareike Brenner

Mareike ist 1991 in Bonn geboren und hat ihr Diplom in der Fachrichtung Journalistik an der TU Dortmund erworben. Sie hat einen Hintergrund im Bereich Design, da sie an der HAW Hamburg Illustration studiert hat. Mareike hat aber einen Sprung in die Welt des Journalismus gemacht, weil sie schon immer eine Leidenschaft für kreatives Schreiben hatte. Derzeit ist sie in der Redaktion von Freshideen tätig und schreibt gern Berichte über Schönheitstrends, Mode und Unterhaltung. Sie kennt übrigens alle Diäten und das Thema „Gesund abnehmen“ wird von ihr oft bevorzugt. In ihrer Freizeit kann man sie beim Kaffeetrinken mit Freunden antreffen oder sie bleibt zu Hause und zeichnet. Neulich hat sie eine neue Leidenschaft entdeckt, und das ist Online-Shopping.