Dein erstes Haiku? Vergiss das Silbenzählen – hier kommt, was wirklich zählt.

von Emma Wolf
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Ich beschäftige mich jetzt schon eine gefühlte Ewigkeit mit Haikus. Und wenn mich heute jemand fragt, wie man damit anfängt, ist meine erste Antwort immer die gleiche: Atme tief durch und vergiss für einen Moment diese magische 5-7-5-Regel. Ganz ehrlich, ein Haiku ist keine Matheaufgabe. Es ist ein eingefangener Augenblick, ein Polaroid in Worten. Das echte Handwerk dahinter ist so viel spannender als stures Silben-Abzählen.

Gerade bei uns im deutschen Sprachraum führt diese Regel oft zu Gedichten, die sich irgendwie hölzern und ungelenk anfühlen. Man quetscht Wörter in ein Schema, das für unsere Sprache gar nicht gemacht ist. Aber keine Sorge, das lässt sich ändern. In diesem Beitrag zeige ich dir die Werkzeuge, die du wirklich brauchst – wir reden über Rhythmus, die Macht der Pause und wie du mit ganz normalen deutschen Wörtern die Seele eines echten Haiku einfängst.

Warum Deutsch einfach anders klingt (und das gut so ist)

Um zu verstehen, warum das 5-7-5-Mantra bei uns oft nicht funktioniert, müssen wir kurz auf die „Physik“ der Sprache schauen. Japanisch und Deutsch haben einfach einen komplett anderen Rhythmus.

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Moren vs. Silben: Der japanische Beat

Im Japanischen zählt man „Moren“, das sind rhythmische Einheiten, die alle ungefähr gleich lang sind. Das Wort „Haiku“ (ha-i-ku) hat zum Beispiel drei dieser Einheiten. Dieser gleichmäßige Takt gibt den Gedichten eine ganz natürliche, fließende Melodie. Siebzehn dieser kurzen Einheiten, verteilt auf drei Phrasen – das ist eine perfekte, leichte Balance.

Das Gewicht unserer deutschen Wörter

Unsere Sprache ist da anders. Unsere Silben haben ein ganz unterschiedliches Gewicht. Ein Wort wie „in“ ist super kurz. Ein Wort wie „Herbst“ hingegen, mit seinen vielen Konsonanten, ist schwer und braucht länger zum Sprechen. Schau dir mal diese beiden Zeilen an:

  • „Grünes Blatt im Wind“ (5 Silben, fühlt sich leicht und schnell an)
  • „Kalt schlägt Herbsteswind“ (5 Silben, fühlt sich schwer und langsam an)

Beide haben exakt fünf Silben, aber die zweite Zeile ist gefühlt doppelt so lang. Wenn wir uns also sklavisch an die 5-7-5-Regel halten, bekommen wir oft ein rhythmisches Durcheinander. Erfahrene Dichter orientieren sich deshalb eher an einer „kurz – lang – kurz“-Struktur. Die mittlere Zeile sollte sich spürbar länger anfühlen, die beiden äußeren kürzer. Ob das dann am Ende 12 oder 15 Silben insgesamt sind, ist zweitrangig. Der Klang entscheidet!

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Kleiner Tipp zu deutschen Silben-Stolperfallen: Wörter wie „Feuer“ oder „eigentlich“ machen vielen zu schaffen. Sprich sie einfach laut und natürlich aus. „Feu-er“ hat zwei Silben. „Ei-gent-lich“ hat drei. Verlass dich auf dein Gehör, nicht auf komplizierte Regeln. Das ist der beste Kompass.

Die Werkzeugkiste für dein Haiku

Ein starkes Haiku ist kein Zufall. Es wird mit präzisen Werkzeugen geformt. Die beiden wichtigsten solltest du unbedingt kennen: das Kigo (Jahreszeitenwort) und das Kireji (der „Schnitt“).

Kigo: Der Anker in der Zeit

Ein traditionelles Haiku spielt immer in einer bestimmten Jahreszeit. Das Kigo ist ein Wort, das diese Jahreszeit andeutet, ohne plump „es ist Sommer“ zu sagen. Es verbindet den kleinen Moment deines Gedichts mit dem großen Kreislauf der Natur und schafft sofort eine Atmosphäre.

Hier mal ein paar Beispiele, die wir oft in meinen Workshops sammeln:

  • Frühling: Schneeglöckchen, Amselgesang, milder Regen, Krokusblüte
  • Sommer: Hitzeflimmern, Zikaden zirpen, langes Abendlicht, Mohnfeld
  • Herbst: Fallendes Laub, Nebelmorgen, Spinnweben im Gras, kalter Wind
  • Winter: Erster Schnee, kahler Ast, gefrorene Pfütze, Atemwolke

Ein gutes Kigo ist der Schlüssel. Es öffnet sofort eine Tür im Kopf des Lesers. Was ist ein Kigo, das es nur bei dir in der Region gibt? Vielleicht das Geräusch der Straßenbahn auf nassen Schienen im Herbst oder der Duft von Flieder aus dem Nachbargarten im Mai? Schreib es doch mal in die Kommentare, ich bin neugierig!

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Kireji: Die Kunst der wirkungsvollen Pause

Das hier ist vielleicht das kniffligste Element, aber auch das mächtigste. Das Kireji ist ein gedanklicher Schnitt, eine Pause, die das Gedicht in zwei Teile teilt. Diese beiden Teile stehen in einem Spannungsverhältnis. Sie beschreiben oft zwei verschiedene Dinge, und erst im Kopf des Lesers entsteht durch die Pause die Verbindung.

Im Deutschen haben wir dafür keine speziellen Wörter, aber wir können den Effekt super nachahmen:

  • Der Doppelpunkt: Mein absoluter Favorit. Er signalisiert klar: „Achtung, jetzt kommt etwas, das sich auf das Vorherige bezieht!“
  • Der Gedankenstrich: Etwas sanfter als der Doppelpunkt, aber genauso wirkungsvoll.
  • Der Zeilenumbruch selbst: Manchmal reicht die Leere zwischen zwei Zeilen. Man hält automatisch kurz inne.

Schauen wir uns das mal an:

Kahler Winterast:
Eine einzelne Krähe
sitzt im Abendrot.

Bumm! Der Doppelpunkt nach „Winterast“ ist unser Kireji. Er trennt das statische, fast leblose Bild des Astes (Teil 1) von der lebendigen Szene mit der Krähe (Teil 2). Der Leser verbindet beides: die Stille des Winters und diesen einen, kleinen, dunklen Punkt voller Leben. Ohne diesen Schnitt wäre es nur eine langweilige Beschreibung.

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An die Stifte, fertig, los: Dein Weg zum ersten Gedicht

Okay, genug Theorie. Wie fängst du jetzt ganz praktisch an? Hier ist ein Prozess, der sich bewährt hat. Erwarte kein Meisterwerk in fünf Minuten – gut Ding will Weile haben.

Schritt 1: Lesen, aber richtig!

Bevor du selbst schreibst, lies die Werke der alten Meister. Aber analysiere sie wie ein Handwerker. Lies die Gedichte laut. Wo spürst du die Pause? Welches Wort schafft die Jahreszeiten-Stimmung? Welche zwei Bilder werden da gegenübergestellt? Achte beim Kauf von Büchern auf moderne, gut lesbare Übersetzungen, die kosten meist so zwischen 15 € und 25 € und sind die Investition absolut wert.

Dein Quick-Win: Ein Haiku in 3 Minuten

Keine Zeit für lange Übungen? Probier das hier, dauert wirklich nur drei Minuten und hilft, die Blockade zu lösen:

  1. Schau aus dem Fenster. Was siehst du als Erstes? (z.B. „Regen auf der Scheibe“)
  2. Hör genau hin. Was hörst du als Erstes? (z.B. „Tastatur tippt“)
  3. Verbinde beides mit einem Schnitt:

Nasser Glanz auf der Scheibe –
meine Finger tippen schnell
ein leises Lied.

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Fertig. Ist es perfekt? Wahrscheinlich nicht. Aber es ist ein Anfang! Du hast gerade einen Moment eingefangen. Das ist die halbe Miete.

Schritt 2: Die reine Beobachtung (Shasei)

Das ist die wichtigste Übung überhaupt. Geh nach draußen – Parkbank, Balkon, egal. Nimm ein Notizbuch. Deine Aufgabe für 15 Minuten: Schreib nur auf, was deine fünf Sinne wahrnehmen. Keine Gefühle, keine Bewertungen. Nicht „der schöne Vogel“, sondern „Amsel pickt Wurm“. Nicht „der traurige Regen“, sondern „Tropfen auf dem Blatt“.

Deine Liste könnte so aussehen: – Wind rauscht in den Bäumen – Wolke zieht vorbei – warmer Stein unter der Hand – Geruch von nassem Asphalt – Fahrradklingel in der Ferne

Schritt 3: Kombinieren und Verdichten

Jetzt wird’s spannend. Nimm zwei Elemente von deiner Liste, die erstmal nichts miteinander zu tun haben. Zum Beispiel „warmer Stein“ und „Fahrradklingel in der Ferne“. Das eine ist nah und still, das andere fern und in Bewegung. Daraus basteln wir jetzt ein Gedicht.

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Erster Versuch (oft noch plump):
Der Stein ist noch warm.
Weit weg höre ich eine Klingel.
Die Sonne ist schon weg.
Das ist eine reine Feststellung, da ist noch keine Poesie drin. Machen wir es bildhafter und fügen einen Schnitt ein:

Zweiter Versuch (schon viel besser):
Warmer Stein in der Hand:
Aus der Ferne eine Klingel
verliert sich im Abend.

Alter Baum im Park.
Ein Vogel singt ein Lied.
Ich sitze auf der Bank.

Heute würde ich den Moment vielleicht so einfangen:

Schatten des alten Baums –
nur das Lied einer Amsel
auf der leeren Bank.

Es ist ein Prozess. Jeder „schlechte“ Entwurf ist ein notwendiger Schritt.

Gut zu wissen: Der Unterschied zwischen Haiku und Senryū

Ach ja, da gibt es noch den kleinen Bruder des Haiku: das Senryū. Die beiden werden oft verwechselt, aber der Unterschied ist eigentlich ganz einfach zu merken. Stell sie dir nebeneinander vor:

  • Das Haiku ist der Naturbeobachter. Sein Thema ist fast immer die Natur, es braucht ein Kigo (Jahreszeitenwort) und sein Ton ist meistens eher objektiv und beobachtend.
  • Das Senryū ist der Menschenkenner. Sein Thema ist die menschliche Natur mit all ihren Schwächen, Macken und Eigenheiten. Es braucht kein Kigo und ist oft humorvoll, ironisch oder sogar ein bisschen satirisch.

Das berühmte Beispiel vom Dieb, der den Mond am Fenster zurücklässt, ist also streng genommen ein Senryū, weil es um menschliches Verhalten geht. Das zu wissen schärft deinen Blick für das, was ein echtes Haiku ausmacht.

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Ein paar ehrliche Worte zum Schluss

Vorsicht vor Klischees: Die größte Falle sind abgenutzte Bilder. Kirschblüten, der Mond, das weite Meer … versuch, das Haiku in deiner direkten Umgebung zu finden. Im Moos zwischen den Pflastersteinen. Im Licht, das durch ein staubiges Fenster fällt. Das Authentische ist immer stärker.

Finde Gleichgesinnte: Schreiben ist oft ein einsamer Prozess, aber um besser zu werden, braucht man Austausch. Es gibt tolle Online-Foren oder sogar Vereine wie die Deutsche Haiku-Gesellschaft e.V., wo man sich Feedback von erfahrenen Leuten holen kann. Such nach Kritikern, die die richtigen Fragen stellen: „Wo ist der Schnitt? Welche Bilder prallen hier aufeinander?“

Letztendlich ist das Schreiben von Haikus eine wunderbare Übung in Achtsamkeit. Es zwingt uns, die Welt wieder genauer anzuschauen. Es ist eine lebenslange Reise, keine Technik, die man an einem Wochenende lernt. Aber jeder Schritt auf diesem Weg lohnt sich. Also, nimm dir einen Stift, geh nach draußen und fang den nächsten Augenblick ein.

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Alter Teich.
Ein Frosch springt hinein –
Geräusch des Wassers.

Dieses weltberühmte Haiku von Matsuo Bashō (1644–1694) ist der Inbegriff der Haiku-Kunst. Der Fokus liegt nicht auf einer starren Silbenregel, sondern auf dem Kontrast: die ewige Stille des alten Teichs wird durch den einen, winzigen Augenblick des Sprungs durchbrochen. Es ist das perfekte Beispiel für die zentrale Idee des Artikels – ein Haiku fängt einen Moment ein und macht durch das Geräusch die Stille erst richtig spürbar.

Oft gehört, nie ganz verstanden: Was ist eigentlich ein „Kireji“?

Das „Kireji“ (Schneidewort) ist eine Art poetisches Satzzeichen im klassischen japanischen Haiku, das eine Pause oder eine gedankliche Wende erzwingt. Es teilt das Gedicht in zwei spannungsvoll verbundene Hälften. Da es im Deutschen keine direkte Entsprechung gibt, müssen wir kreativ werden: Ein einfacher Gedankenstrich (–), ein Doppelpunkt oder der bewusste Einsatz des Zeilenumbruchs können eine ähnliche Funktion erfüllen. Sie schaffen jenen Moment des Innehaltens, der zwei Bilder aufeinanderprallen lässt und dem Haiku seine Tiefe verleiht.

Emma Wolf

Ich liebe es, unseren Lesern und Leserinnen praktische und einzigartige Informationen, Tipps und Life Hacks über allmögliche Themen zu geben, die sie in ihrem Alltag auch tatsächlich anwenden können. Ich bin immer auf der Suche nach etwas Neuem – neuen Trends, neuen Techniken, Projekten und Technologien.