Tunnel-Träume unter der Stadt: Coole Vision oder brandgefährlicher Unsinn? Ein Profi vom Bau packt aus.
Man muss es ja zugeben: Wenn ein bekannter Visionär eine Idee raushaut, hören alle hin. Das ist ja auch klar, da wurden schon einige Branchen ordentlich aufgemischt. Die neueste Vision? Den Stadtverkehr mit einem Netz aus Tunneln zu revolutionieren. Klingt erstmal genial: Auto auf einen Aufzug, runter in eine Röhre und mit Karacho ans andere Ende der Stadt zischen, während oben alle im Stau stehen.
Inhaltsverzeichnis
Als jemand, der sein ganzes Berufsleben im Tief- und Tunnelbau verbracht hat – vom Azubi bis zum Meister auf der Baustelle – sehe ich da aber mehr als nur die glänzende Idee. Ich sehe Beton. Ich sehe Stahl, Fels und vor allem das Grundwasser, das sich nicht für schicke Präsentationen interessiert. Ganz ehrlich? Ich sehe die knallharte Arbeit dahinter und die Fragen, die jedem Praktiker sofort durch den Kopf schießen.
Eine Sache hab ich über die Jahre gelernt: Der Untergrund hat seine eigenen Regeln. Den kannst du nicht mit purem Willen überlisten. Du musst ihn lesen, mit ihm arbeiten und seine Tücken kennen. Also, schauen wir uns das Ganze mal ohne die rosarote Brille an. Nicht als Miesmacher, sondern als Handwerker, der wissen will, ob das Fundament dieser Idee überhaupt tragfähig ist.

Erstmal die Basics: Wie kommt das Loch überhaupt in den Boden?
Bevor wir von Highspeed-Fahrten träumen, müssen wir über das Loch selbst reden. Ein Tunnel ist ja keine simple Röhre, sondern ein hochkomplexes Bauwerk, das unfassbaren Kräften standhalten muss. Das ist pure Physik, da gibt’s keine Abkürzung.
Der Druck von allen Seiten
Stell dir vor, du gräbst ein Loch am Sandstrand. Was passiert? Der Sand rutscht sofort nach. Unter der Erde ist das genauso, nur eben mit dem Gewicht eines ganzen Berges oder einer Stadt obendrauf. Von oben drückt die Auflast, von den Seiten der Erddruck, und wenn du Pech hast, kommt von unten noch der Wasserdruck dazu. Ein Tunnel muss diesen Druck 360 Grad aushalten. Deshalb sind die meisten Tunnel auch rund – die Kreisform ist einfach unschlagbar, um diesen Druck gleichmäßig zu verteilen. Das ist ein zeitloses Prinzip im Bauwesen.
Die neuen Konzepte setzen oft auf sehr kleine Tunneldurchmesser von etwa vier Metern. Das hat einen klaren Vorteil: Weniger Aushub bedeutet erstmal weniger Kosten und der Druck ist leichter zu beherrschen als bei einer riesigen U-Bahn-Röhre mit zehn Metern Durchmesser. Aber diese schmale Bauweise bringt auch massive Nachteile mit sich, dazu komme ich gleich noch.

Die Maschine: Das unterirdische Arbeitstier
Heute buddeln wir ja nicht mehr von Hand. Dafür haben wir Tunnelvortriebsmaschinen, kurz TVM. Das sind quasi mobile Fabriken, die sich durch die Erde fressen. So eine Maschine kostet übrigens locker 15 bis 20 Millionen Euro – und da ist noch kein einziger Meter Tunnel gegraben!
Vorne dreht sich ein riesiges Schneidrad, dahinter schützt ein Stahlzylinder, der Schild, die Mannschaft. Während sich die Maschine nach vorne presst, wird im hinteren, geschützten Bereich die Tunnelwand gebaut. Dafür werden vorgefertigte Betonsegmente eingesetzt, die wir Profis „Tübbinge“ nennen. Stell dir das vor wie riesige, gebogene Lego-Steine aus Stahlbeton. Sechs bis sieben davon ergeben einen perfekten, wasserdichten Ring. Ist ein Ring fertig, drückt sich die Maschine von ihm ab und schiebt sich die nächsten zwei Meter vor. So geht das immer weiter. Ein bewährtes, sicheres System, das wir seit Jahrzehnten nutzen.
Schneller, billiger, besser? Ein Blick auf die Praxis
Die große Idee ist ja, diesen ganzen Prozess radikal zu beschleunigen und zu verbilligen. Man will Maschinen bauen, die viel schneller sind, und den Aushub direkt vor Ort zu Ziegeln verarbeiten. Klingt super, aber die Realität auf der Baustelle ist oft eine andere.

Das Märchen von der Geschwindigkeit
Eine moderne TVM schafft an einem guten Tag vielleicht 15, maximal 20 Meter. Rekorde liegen zwar höher, aber das sind Laborbedingungen. Der entscheidende Faktor ist nicht die Maschine, sondern die Geologie. Weicher Lehmboden ist ein Traum. Aber was ist mit Fels, Sandlinsen oder einem plötzlichen Wassereinbruch? Ich stand mal auf ’ner Baustelle bei München, da sind wir auf einen Felsbrocken groß wie ein VW Bus gestoßen, den kein Bodengutachten auf dem Schirm hatte. Ergebnis? Wochenlanger Stillstand.
Und selbst wenn der Boden perfekt ist, gibt es noch die Logistik. Für jeden Meter Tunnel müssen Tonnen von Dreck raus und Tonnen von Tübbingen rein. Wenn du die Bohrgeschwindigkeit verdreifachen willst, musst du auch die Logistik an der Oberfläche verdreifachen. Wo lagerst du die ganzen Betonteile? Wie schaffst du den Abraum aus einer eh schon verstopften Innenstadt? Das sind die Fragen, die einem Bauleiter den Schlaf rauben.
Die Sache mit den Ziegelsteinen
Den Aushub direkt zu Ziegeln zu verarbeiten, ist eine charmante Idee, um Transportkosten zu sparen. In der Praxis ist das aber ein Albtraum. Der Boden ist nie homogen. Mal hast du Lehm, dann Kies, dann wieder Sand. Um daraus einen genormten Ziegel zu pressen, brauchst du eine konstante Materialqualität. Das erfordert eine riesige Aufbereitungsanlage direkt an der Baustelle. Und was, wenn die Geologie sich ändert und plötzlich unbrauchbares Zeug hochkommt? Die Idee ist top, die Umsetzung im großen Stil… extrem schwierig.

Das ungelöste Problem: Oben und an den Enden
Mal angenommen, der Tunnelbau selbst klappt irgendwie. Die größten und teuersten Probleme warten gar nicht im Tunnel, sondern an den Ein- und Ausfahrten.
Kosten: Der Tunnel ist nicht das Teuerste!
Jetzt mal Butter bei die Fische. Ein Kilometer klassischer U-Bahn-Tunnel in einer deutschen Stadt kostet dich locker zwischen 80 und 150 Millionen Euro. Aber weißt du, was richtig ins Geld geht? Die Bahnhöfe! Eine unterirdische Station zu bauen ist der absolute Wahnsinn. Du brauchst gigantische Baugruben, musst den Verkehr jahrelang umleiten und komplexe Anlagen für Lüftung, Brandschutz und Zugänge errichten.
Das neue Konzept will das mit kleinen Auto-Aufzügen umgehen. Aber auch die brauchen Platz an der Oberfläche. Und zwar wertvollen Platz, den es in Innenstädten kaum gibt und der unbezahlbar ist. Ein ganzes Netz mit tausenden Zufahrten würde das Stadtbild komplett zerstückeln.
Der Flaschenhals: Den Stau nur verlagert?
Stellen wir uns mal vor, das System läuft. Tausende Autos pro Stunde verschwinden im Untergrund. Super, die Autobahn ist frei! Aber was passiert an den Ausfahrten? Da spuckt das System all diese Autos wieder auf die normalen Stadtstraßen. Wenn die nicht die Kapazität haben, hast du den Stau einfach von der Autobahn in die Wohngebiete verlagert. Ein Verkehrssystem ist nur so stark wie sein schwächstes Glied.

Und was ist mit der Effizienz?
Ganz ehrlich, hier liegt für mich der größte Denkfehler. Schauen wir uns die Kapazität an:
- Eine moderne U-Bahn oder S-Bahn befördert mit einem einzigen Zug über 1.000 Menschen.
- Ein Auto befördert im Schnitt 1,2 Personen.
Um die Kapazität einer einzigen U-Bahn-Linie zu erreichen, bräuchtest du ein Labyrinth aus hunderten Tunneln nur für Autos. Aus Sicht der Stadtplanung ist es fast immer schlauer, in Massentransportmittel zu investieren. Diese Tunnel sind im Grunde eine private Überholspur für die, die es sich leisten können, aber keine Lösung für das Verkehrsproblem der Allgemeinheit.
Sicherheit: Der Punkt, an dem der Spaß aufhört
Als Meister auf dem Bau habe ich eine Verantwortung. Für meine Leute und für die Menschen, die unsere Bauwerke später nutzen. Und genau hier, beim Thema Sicherheit, habe ich die allergrößten Bauchschmerzen.
Szenario: Feuer im Tunnel
Ein Brand im Tunnel ist das absolute Worst-Case-Szenario. Der Rauch kann nicht weg, die Hitze staut sich brutal. Besonders ein brennendes E-Auto ist die Hölle, weil die Akkus kaum zu löschen sind und hochgiftige Gase freisetzen. Normale Straßentunnel haben deshalb ein ganzes Arsenal an Sicherheitsvorkehrungen: Notausgänge alle paar hundert Meter, riesige Lüfter, die den Rauch in eine Richtung drücken, und Brandmeldeanlagen.

Schon mal im Gotthard- oder Eurotunnel gewesen? Die haben eine komplett separate Fluchtröhre daneben. Im Notfall kommst du rüber und bist in einem sicheren, rauchfreien Bereich, der unter Überdruck steht. Das ist der Goldstandard der Sicherheit. Und in diesen neuen, schmalen Konzept-Tunneln? Da gibt es keine Fluchtwege. Du kannst nicht mal die Tür aufmachen und aussteigen. Wenn ein Auto vor dir brennt, sitzt du in der Falle. Wie soll die Feuerwehr da reinkommen? Das ist ein Problem, das gelöst werden MUSS, bevor auch nur ein Mensch da durchfährt.
Ein Wort der Warnung
Neue Ideen sind wichtig, ohne Visionäre gäbe es keinen Fortschritt. Aber die Gesetze der Physik und die Verantwortung für Menschenleben sind nicht verhandelbar. Ein Prototyp in der Wüste ist eine Sache. Ein Verkehrsnetz unter den Füßen von Millionen von Menschen eine völlig andere. Da kann man nicht einfach mal losbohren und hoffen, dass alles gut geht. In Deutschland dauert die Planung für Großprojekte wie die U5 in Berlin oft Jahre – und das ist auch gut so. Dieses „Planfeststellungsverfahren“ stellt sicher, dass alle Risiken, von Lärmschutz bis Statik, bedacht werden.

Mein Fazit: Auf den Punkt gebracht
Die Idee, den Tunnelbau an sich schneller und günstiger zu machen, ist Gold wert. Wenn es gelingt, hier neue Techniken zu etablieren, könnte das für den Bau von Versorgungsleitungen oder sogar unterirdischer Logistik super sein. Das würde unsere Städte wirklich entlasten.
Aber der Fokus auf individuelle Autos in schmalen Röhren ist aus meiner Sicht als Praktiker ein Irrweg. Er löst die eigentlichen Verkehrsprobleme nicht, sondern schafft neue, riesige Herausforderungen.
Fassen wir die drei größten Kritikpunkte zusammen:
- Die Sicherheit ist völlig ungelöst. Besonders im Brandfall ist das aktuelle Konzept eine potenzielle Todesfalle.
- Der Verkehrsstau wird nur verlagert, nicht aufgelöst. Das Problem wandert von der Autobahn an die Ausfahrten in den Stadtteilen.
- Die Kapazität ist ein Witz im Vergleich zum öffentlichen Nahverkehr. Es ist eine Lösung für wenige, nicht für die breite Masse.
Vielleicht ist das ganze Projekt am Ende ein teures Experiment, aus dem wir viel lernen. Aber als Ersatz für einen sicheren und für alle zugänglichen ÖPNV? Sehe ich es definitiv nicht. Ein Bauwerk muss den Menschen dienen. Allen. Und es muss über Generationen sicher sein. Das ist der Maßstab, den wir im Handwerk anlegen. Und der sollte, ehrlich gesagt, auch für die kühnsten Visionen gelten.

Bildergalerie

Beim Bau des Gotthard-Basistunnels, des längsten Eisenbahntunnels der Welt, wurden 28,2 Millionen Tonnen Gestein ausgebrochen – das entspricht dem fünffachen Volumen der Cheops-Pyramide.
Diese schier unvorstellbare Menge an Material musste nicht nur aus dem Berg geholt, sondern auch abtransportiert und gelagert werden. Das ist die oft vergessene Seite des Tiefbaus: die Logistik des Aushubs. Bei einem urbanen Tunnelnetzwerk potenziert sich dieses Problem. Mitten in einer dicht besiedelten Stadt Millionen Tonnen Erdreich und Gestein zu bewegen, ohne den Verkehr lahmzulegen oder die Umwelt übermäßig zu belasten, ist eine Herkulesaufgabe. Das ist keine Nebensächlichkeit, sondern ein zentraler Kosten- und Zeitfaktor, der über die Machbarkeit solcher Visionen entscheidet.


