Sichtbeton: Die ungeschminkte Wahrheit von der Baustelle

von Augustine Schneider
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Kennen Sie das? Junge, ambitionierte Bauherren oder Architekten kommen ins Büro, das Tablet in der Hand, und zeigen mir diese Hochglanzbilder. Villen, die in Klippen zu schweben scheinen, minimalistische Lofts, alles aus makellosem, seidenglattem Sichtbeton. Ich nicke dann immer, schaue mir das an und frage ganz trocken: „Sieht super aus auf dem Foto. Aber ist Ihnen klar, was es bedeutet, das in der Realität wirklich so hinzubekommen?“

Ganz ehrlich, zwischen dem Traum vom „béton brut“, dem rohen, ehrlichen Beton, den einige berühmte Architekten der Moderne populär gemacht haben, und der knallharten Wirklichkeit auf der Baustelle liegen Welten. Ich bin seit Jahrzehnten im Bauhandwerk, habe meinen Meister gemacht und bilde selbst den Nachwuchs aus. Ich habe gelernt, Beton zu lesen, seine Launen zu kennen und seine wahre Schönheit zu schätzen. Kommen Sie mit, ich zeige Ihnen, was Sichtbeton wirklich ist – nicht nur ein Stilmittel, sondern ein lebendiger Baustoff mit eigenem Charakter.

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Was ist Sichtbeton überhaupt? Die Grundlagen

Für die meisten ist Beton einfach die graue Pampe, die irgendwann hart wird. Für uns Profis ist es eine Wissenschaft für sich. Sichtbeton ist nämlich kein spezieller Beton. Es ist ganz normaler Beton, aber mit dem Anspruch, dass seine Oberfläche nach dem Abschalen perfekt aussieht und eine gestalterische Rolle spielt. Und die Qualität dieser Oberfläche hängt von unzähligen Kleinigkeiten ab.

Die Zutaten entscheiden über den Look

Im Grunde besteht Beton aus Zement, Gesteinskörnung (also Sand und Kies) und Wasser. Dazu kommen oft noch ein paar chemische Helferlein. Jede einzelne Komponente hat massiven Einfluss auf die spätere Optik.

  • Der Zement: Das ist der Klebstoff, der alles zusammenhält, und er bestimmt die Grundfarbe. Ein klassischer Portlandzement sorgt für ein helleres Grau. Nimmt man dagegen einen Hüttenzement, wird der Beton oft dunkler, manchmal sogar mit einem leichten Blaustich. Wir hatten mal ein Projekt, da war eine ganz bestimmte, helle Farbe gefordert. Da mussten wir mit dem Betonwerk aushandeln, dass der Zement aus einer einzigen Charge für das gesamte Bauvorhaben reserviert wird. Das kostet natürlich extra, aber nur so konnten wir fiese Farbunterschiede vermeiden.
  • Sand und Kies: Normalerweise sieht man die Körnung nicht, weil sie vom Zementleim umhüllt ist. Aber sobald man die Oberfläche bearbeitet – zum Beispiel schleift oder wäscht – kommt sie zum Vorschein und prägt die Textur.
  • Das Wasser: Startet die chemische Reaktion. Hier gilt die eiserne Regel: So wenig wie möglich, aber so viel wie nötig. Zu viel Wasser schwächt den Beton, macht ihn poröser und hinterlässt eine unschöne, mehlige Oberfläche.
  • Die Zusatzmittel: Das sind unsere kleinen Tricks. Ein Fließmittel macht den Beton geschmeidiger, ohne dass wir mehr Wasser dazugeben müssen. Für superglatte Sichtbetonflächen ist das unerlässlich, damit die Masse auch in die hinterste Ecke der Schalung fließt.
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Die Sichtbetonklassen: Von der Kellerwand bis zur Kunst

In Deutschland gibt es ein Merkblatt, das die Anforderungen regelt. Für Sie als Bauherr ist es gut, die vier Klassen mal gehört zu haben, vor allem, weil sie direkt mit dem Preis zusammenhängen.

SB 1 ist die einfachste Klasse. Denken Sie an eine Kellerwand oder eine Tiefgaragenstütze. Hier sind Poren, kleine Farbunterschiede und raue Stellen völlig okay. Das kostet im Grunde nichts extra.

SB 2 hat schon normale gestalterische Anforderungen. Das findet man oft in Treppenhäusern. Die Fläche sollte schon gleichmäßiger aussehen. Rechnen Sie hier mit einem moderaten Aufpreis für die sorgfältigere Arbeit.

SB 3 ist die Liga für hohe Ansprüche, zum Beispiel bei Fassaden oder Wänden in schicken Eingangsbereichen. Hier wird es anspruchsvoll und teuer. Textur, Farbe und Porigkeit müssen klar definiert sein. Rechnen Sie mal grob damit, dass eine Wand in SB 3 locker das Doppelte einer Wand in SB 2 kosten kann. Da reden wir schnell über 150-250 € pro Quadratmeter zusätzlich, nur für die perfekte Optik.

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Und dann gibt es noch SB 4. Das ist die absolute Königsklasse, die man in Museen oder exklusiven Villen findet. Hier ist die Betonoberfläche selbst das Kunstwerk, und fast jede Pore gilt als Mangel. Der Preis? Ehrlich gesagt, hier wird nach Aufwand abgerechnet, und der ist immens. Das ist quasi Kunst am Bau.

Die Schalung: Die Mutter der Betonwand

Jetzt kommt das Wichtigste: Das Geheimnis von gutem Sichtbeton ist nicht der Beton, sondern die Schalung. Sie ist die Gussform. Jede Faser, jeder Kratzer, jeder Schmutzfleck auf der Innenseite der Schalung drückt sich 1:1 im Beton ab. Man kann sagen: Die Planung und der Bau der Schalung machen 80 % des Erfolgs aus.

Für den klassischen, rauen Look nimmt man sägerauhe Holzbretter. Die zeichnen eine wunderschöne, lebendige Holzmaserung in den Beton. Der Nachteil: Das Holz saugt Wasser, was zu Farbflecken führen kann, wenn man nicht höllisch aufpasst.

Für die heute so beliebten seidenglatten Flächen nehmen wir große, kunststoffbeschichtete Platten. Die sind superglatt und saugen kein Wasser. Aber Achtung! Jeder noch so kleine Kratzer auf diesen Platten ist später als feiner Grat auf Ihrer teuren Wand zu sehen. Die müssen behandelt werden wie rohe Eier.

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Übrigens, ein faszinierendes Detail sind die Ankerlöcher. Das sind die Löcher von den Stäben, die die Schalung zusammenhalten. Ihr Muster ist ein zentrales Gestaltungselement. Bei manchen berühmten modernen Gebäuden wurde das Anker-Raster so präzise geplant, dass es perfekt auf die Fugen der Bodenmatten im Innenraum ausgerichtet ist. Das ist Planung auf einem ganz anderen Level!

Der große Tag: Ein Tanz mit flüssigem Stein

Wenn die Schalung steht und abgenommen ist, kommt der Beton. Das ist ein Akt, der höchste Konzentration erfordert und nicht unterbrochen werden darf. Der Beton wird mit einer Pumpe in Lagen von etwa 50 cm in die Schalung gefüllt. Jede Lage muss sofort verdichtet werden, um die Luft rauszubekommen.

Dafür nehmen wir eine Rüttelflasche. Das ist ein vibrierender Stab, den wir in den frischen Beton tauchen. Die Technik ist eine Kunst. Ich sage meinen Jungs immer: „Die Flasche schnell rein, aber ganz langsam und gleichmäßig wieder rausziehen.“ Hältst du sie zu lange an einer Stelle, entmischt sich der Beton. Das schwere Zeug sinkt nach unten, der feine Zementleim steigt auf – das Ergebnis sind hässliche Schlieren und eine schlechtere Qualität.

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Der Moment der Wahrheit: Ausschalen und was danach kommt

Nach ein paar Tagen des Aushärtens kommt der nervenaufreibendste Moment: das Ausschalen. Es ist jedes Mal wie Geschenke auspacken, bei dem man nicht weiß, ob man sich freuen wird. Man hat alles getan, aber eine Restunsicherheit bleibt.

Was tun, wenn’s doch schiefgeht?

Die häufigsten Fehler sind Luftbläschen (Lunker), sandige Stellen (Kiesnester) durch undichte Schalungen oder Farbunterschiede. Und was dann? Ganz ehrlich, die meisten Fehler sind eine Katastrophe. Ein Kiesnest einfach zuspachteln? Vergessen Sie’s. Man wird es fast immer sehen. Eine professionelle kosmetische Reparatur durch einen Spezialisten ist extrem aufwendig und kann schnell 200-500 € pro kleiner Stelle kosten – ohne Garantie, dass es danach unsichtbar ist.

Deshalb ist die Nachbehandlung so wichtig. Der frische Beton darf nicht zu schnell austrocknen, sonst kriegt er Risse. Wir decken ihn mit Folien ab oder sprühen ihn mit einem Schutzfilm ein. Das muss man ein paar Tage durchziehen, wird aber oft aus Zeitdruck vernachlässigt – ein fataler Fehler.

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Leben mit Sichtbeton: Gut zu wissen

Eine Betonwand im Wohnraum ist toll, hat aber ihre Eigenheiten. Eine davon ist die Akustik. Harte, glatte Flächen reflektieren den Schall. Ein Raum nur mit Beton, Glas und Parkett kann hallen wie eine Turnhalle. Planen Sie also von Anfang an Teppiche, Vorhänge oder spezielle Akustikpaneele mit ein.

Pflege und Alterung

Um die Oberfläche vor Schmutz und Fettfingern zu schützen, kann man sie imprägnieren. Das zieht unsichtbar in den Beton ein. Zum Reinigen nehmen Sie bitte niemals scharfe oder säurehaltige Mittel! Alles mit Essig oder Zitrone ist Gift für die Oberfläche und frisst sie an. Am besten sind simple Schmierseife oder spezielle Steinseife, die es im Fachhandel gibt.

Geht der Look auch in der Altbausanierung?

Aber was, wenn Sie in einer Bestandsimmobilie wohnen und keine tragenden Wände gießen können? Auf den Look müssen Sie nicht komplett verzichten. Es gibt tolle Alternativen:

  • Beton Ciré oder Spachteltechnik: Hier wird eine wenige Millimeter dicke, zementäre Spachtelmasse auf eine bestehende Wand aufgetragen. Das ist handwerklich anspruchsvoll, aber das Ergebnis kann täuschend echt aussehen. Kostenpunkt: ca. 100-200 € pro Quadratmeter.
  • Vorsatzschalen: Man kann auch dünne Platten aus Faserbeton vor eine bestehende Wand montieren. Das ist oft schneller und sauberer, aber auch weniger individuell.

Klar, das ist dann nicht der „echte“ massive Beton, aber für die reine Optik eine super Lösung.

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Sicherheit und die Grenzen des Selbermachens

Ein Wort zur Sicherheit, das mir am Herzen liegt: Frischer Zement ist stark alkalisch. Ohne Handschuhe und Schutzbrille verätzt er die Haut. Das ist kein Witz! Und beim Schleifen von altem Beton entsteht feiner Staub, der die Lunge schädigt. Also immer mit Maske (mindestens FFP2) und Absaugung arbeiten!

Kleiner Tipp für Mutige

Wollen Sie mal ein Gefühl für das Material bekommen? Versuchen Sie sich nicht gleich an einer Wand. Kaufen Sie für unter 10 Euro einen Sack Fertigbeton im Baumarkt und gießen Sie eine kleine Trittplatte für den Garten oder einen Blumentopf. Da sehen Sie schon im Kleinen, wie schnell Luftblasen entstehen, wenn man beim Verdichten nicht aufpasst. Das ist die beste Übung, um Respekt vor dem Werkstoff zu entwickeln.

Fragen, die Sie Ihrem Architekten stellen sollten

Wenn Sie mit Sichtbeton bauen, gehen Sie Ihrem Planer mit diesen Fragen auf die Nerven. Es ist Ihr Geld!

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  • Welche Sichtbetonklasse (SB 1-4) ist genau geplant und warum?
  • Können wir uns eine Referenz oder eine Probefläche ansehen?
  • Wie stellen wir eine einheitliche Farbe sicher (Stichwort: eine Zementcharge)?
  • Zeigen Sie mir bitte den exakten Plan für das Fugen- und Ankerbild!
  • Was sind die konkreten Mehrkosten für diese Betonqualität im Vergleich zu einer normal verputzten Wand?

Mein Fazit als Handwerker

Sichtbeton ist mehr als ein Trend. Er ist der ehrlichste Baustoff, den ich kenne. Er verzeiht keine Fehler und zeigt jede Nachlässigkeit. Aber wenn er mit Respekt, Wissen und Sorgfalt verarbeitet wird, dann entsteht etwas von unglaublicher Kraft und Schönheit.

Wenn ich heute vor einer perfekten Sichtbetonfläche stehe, sehe ich nicht nur eine graue Wand. Ich sehe die präzisen Schalungsfugen, das ruhige Ankerraster und weiß, wie viel Schweiß, Planung und Leidenschaft da drinstecken. Und das, mein Freund, ist Handwerk, auf das man verdammt stolz sein kann.

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Was sind diese unschönen

Augustine Schneider

Augustine ist eine offene und wissenshungrige Person, die ständig nach neuen Herausforderungen sucht. Sie hat ihren ersten Studienabschluss in Journalistik an der Uni Berlin erfolgreich absolviert. Ihr Interesse und Leidenschaft für digitale Medien und Kommunikation haben sie motiviert und sie hat ihr Masterstudium im Bereich Media, Interkulturelle Kommunikation und Journalistik wieder an der Freien Universität Berlin abgeschlossen. Ihre Praktika in London und Brighton haben ihren beruflichen Werdegang sowie ihre Weltanschauung noch mehr bereichert und erweitert. Die nachfolgenden Jahre hat sie sich dem kreativen Schreiben als freiberufliche Online-Autorin sowie der Arbeit als PR-Referentin gewidmet. Zum Glück hat sie den Weg zu unserer Freshideen-Redation gefunden und ist zurzeit ein wertvolles Mitglied in unserem motivierten Team. Ihre Freizeit verbringt sie gerne auf Reisen oder beim Wandern in den Bergen. Ihre kreative Seele schöpft dadurch immer wieder neue Inspiration und findet die nötige Portion innerer Ruhe und Freiheit.