Die Kunst der Scherbe: Warum wir Porzellan zerbrechen, um es neu zu erschaffen
Vor Kurzem bin ich online über Bilder von Skulpturen gestolpert, die mich echt haben innehalten lassen. Als jemand, der seit Jahrzehnten seine eigene Keramikwerkstatt schmeißt und den Geruch von feuchtem Ton quasi in der DNA hat, meint man ja, schon alles gesehen zu haben. Aber diese Dinger waren anders. Auf den ersten Blick wirkten sie wie Korallenriffe oder exotische Blüten, irgendwie lebendig. Doch mein geschultes Auge sah sofort: Das ist kein Zufall, das ist eine technische Meisterleistung an der Grenze des Machbaren.
Inhaltsverzeichnis
- 0.1 1. Die Diva unter den Tonen: Porzellan ist kein Ponyhof
- 0.2 2. Die kontrollierte Zerstörung: Scherben als Bausteine
- 0.3 3. Sisyphusarbeit für Geduldige: Tausend Teile zu einem Ganzen
- 0.4 4. Die Feuerprobe: Der Moment der Wahrheit
- 0.5 5. Okay, genug geredet – wie fange ich jetzt an?
- 0.6 Mein Fazit als alter Werkstatthase
- 1 Bildergalerie
In meiner Werkstatt kenne ich jedes Geräusch. Das leise „Tick“, wenn eine Porzellanplatte zu schnell trocknet und einen Haarriss bekommt. Das Gefühl von Kaolin und Feldspat zwischen den Fingern. Wenn ich mir solche Kunstwerke ansehe, sehe ich nicht nur das fertige Objekt. Ich sehe die unzähligen Stunden, die kaputten Teststücke und diese Mischung aus Hoffnung und Bangen, bevor man den Brennofen öffnet. Dieser Artikel ist also keine hochtrabende Kunstkritik. Er ist mein Versuch als Praktiker, euch die Technik dahinter zu erklären und zu zeigen, was wir alle – ob Profi oder neugieriger Anfänger – daraus lernen können.

1. Die Diva unter den Tonen: Porzellan ist kein Ponyhof
Das Erste, was jeder meiner Lehrlinge lernt, ist: Hab Respekt vor deinem Material. Das gilt für einfachen Töpferton, aber ganz besonders für Porzellan. Viele halten es für eine edlere Version von Keramik, aber ehrlich gesagt, es ist eine komplett andere Bestie.
Seine besondere Mischung, meist aus Kaolin, Feldspat und Quarz, wird bei extrem hohen Temperaturen gebrannt – wir reden hier von 1280 °C bis 1400 °C. Bei dieser Hitze verglast die Masse komplett. Das Ergebnis? Anders als Steingut nimmt echtes Porzellan selbst ohne Glasur kein Wasser auf. Es ist hart, hygienisch und, das ist der Clou, leicht durchscheinend. Übrigens, ein kleiner Test für zu Hause: Nimm das nächste Mal eine dünne Porzellantasse aus dem Schrank und halte sie gegen eine Lampe. Siehst du, wie das Licht durchschimmert? Genau das ist die berühmte Transluzenz, von der ich spreche!
Diese tollen Eigenschaften haben aber ihren Preis. Porzellan ist zickig. Es ist kaum dehnbar, wir Keramiker nennen das „kurz“. Es reißt schnell beim Formen und verzeiht keine Fehler. Und das Schlimmste ist sein sogenanntes „Gedächtnis“. Jede Biegung, jeder ungleichmäßige Druck, den du im feuchten Zustand ausübst, bleibt gespeichert. Sieht vielleicht erst gut aus, aber im Ofen entladen sich diese Spannungen – und dein rundes Schälchen kommt als trauriges Oval wieder raus. Eine teure Lektion in Geduld, die ich selbst schon lernen musste.

2. Die kontrollierte Zerstörung: Scherben als Bausteine
Die Idee, wertvolles Porzellan absichtlich zu zerdeppern, klingt erstmal verrückt. Normalerweise ist jeder Bruch ein Verlust. Bei dieser Technik ist er aber der erste kreative Akt. Es geht aber nicht um wildes Draufhauen, sondern um gezielte Zerstörung, um Fragmente mit ganz bestimmten Eigenschaften zu bekommen.
Um die farbigen Splitter zu erzeugen, die man in diesen Kunstwerken oft sieht, wird die Porzellanmasse schon vor dem Formen mit Farbkörpern oder Metalloxiden eingefärbt. Dann werden dünne Platten ausgerollt. Ein simples Nudelholz aus der Küche tut es für den Anfang absolut! Der Zustand beim Brechen ist dann entscheidend:
- Lederhart: Diesen Zustand erreicht die Platte nach etwa 2-4 Stunden an der Luft. Sie ist noch leicht biegsam, und ein Bruch erzeugt eher gerundete Kanten.
- Knochentrocken: Nach etwa einem Tag (je nach Luftfeuchtigkeit) ist die Platte komplett trocken und super spröde. Ein Schlag mit dem Hammer erzeugt hier die typischen scharfen, präzisen Kanten. Das Geräusch ist ein kurzes, hohes „Knack“ – ein Sound, der uns Töpfern normalerweise einen Schauer über den Rücken jagt.
Achtung, jetzt kommt der Lehrmeister-Moment!
Hier muss ich eine ernste Warnung aussprechen: Beim Brechen von trockenem Ton entsteht feiner Staub, der Siliziumdioxid enthält. Das Einatmen kann zu einer fiesen, unheilbaren Lungenkrankheit führen (Silikose). Das ist kein Witz! Investiert die 3-5 Euro in eine ordentliche FFP3-Maske aus dem Baumarkt. Das ist die beste Investition in eure Gesundheit! Außerdem gilt: Werkstatt immer nass wischen, niemals trocken fegen, damit der Staub gebunden wird und nicht durch die Luft wirbelt.

3. Sisyphusarbeit für Geduldige: Tausend Teile zu einem Ganzen
Okay, jetzt haben wir einen Haufen scharfkantiger Scherben. Und nun? Wie wird daraus eine stabile Skulptur, die den Brand überlebt? Das Zauberwort heißt „Schlicker“.
Schlicker ist im Grunde nichts anderes als deine Porzellanmasse, mit Wasser zu einem dicken, joghurtartigen Brei verrührt. Er ist der Klebstoff. Der Haken: Er muss exakt die gleiche Zusammensetzung haben wie die Scherben. Warum? Weil Porzellan beim Trocknen und Brennen um bis zu 20 % schrumpft! Wenn der Kleber anders schrumpft als die Teile, reißt alles auseinander. Das bedeutet, für jede Farbe brauchst du einen eigenen, perfekt passenden Schlicker.
Der Aufbau ist dann reine Geduldsarbeit. Jede Scherbe wird einzeln mit Schlicker bestrichen und an die nächste gefügt. Man baut die Form langsam auf, Stück für Stück, und muss dabei immer die Statik im Auge behalten. Oft braucht man Stützen aus Ton oder sogar aus wachsgetränkter Pappe, die im Ofen einfach mit wegbrennt, damit überhängende Teile nicht in sich zusammenfallen.

4. Die Feuerprobe: Der Moment der Wahrheit
Ist die Skulptur fertig und knochentrocken, kommt der große Moment: der Brand. Und jetzt kommt die Frage, die sich 99 % von euch stellen: „Ich hab doch keinen 1300-Grad-Ofen im Keller!“
Keine Sorge, das braucht ihr auch nicht. Sucht nach einem „Brennservice“. Viele Töpfereien, Volkshochschulen oder Künstlerwerkstätten bieten das an. Man mietet sich quasi einen Platz im Ofen. Rechnet mal mit 10-20 € für eine Ladung, je nach Größe. Googelt einfach „Brennservice Keramik“ plus eure Stadt.
Der Brand selbst ist eine Wissenschaft. Er muss extrem langsam erfolgen, oft über mehrere Tage. Ein kritischer Moment ist der „Quarzsprung“ bei 573 °C, wo sich das Material sprunghaft ausdehnt. Zu schnell aufgeheizt, und das ganze Werk explodiert regelrecht. Ganz oben, bei der Höchsttemperatur, wird das Porzellan kurz weich wie zäher Honig, bevor es hart wird. Die Skulptur muss also so gebaut sein, dass sie in diesem Moment nicht in sich zusammensackt. Pures Physik-Wissen, das man sich oft nur durch teure Fehler aneignet. Ich erinnere mich gut an eine Auftragsarbeit, die nach dem Brand nur noch ein Haufen Schutt war. Der Schock sitzt tief, aber daraus lernt man am meisten.

5. Okay, genug geredet – wie fange ich jetzt an?
Fasziniert? Wollt ihr es selbst probieren? Super! Man muss ja nicht gleich eine riesige Skulptur bauen. Hier ist eine kleine Anleitung für den Start.
Dein allererstes Scherben-Testplättchen:
Statt direkt in die Vollen zu gehen, starte mit einer kleinen Testplatte. Das ist der perfekte Weg, um ein Gefühl für das Material zu bekommen.
Was du brauchst (eine kleine Einkaufsliste):
- Porzellan-Paperclay (1 kg): Kostet ca. 5-10 €. Dem Ton sind Papierfasern beigemischt, was ihn stabiler und anfängerfreundlicher macht.
- Ein, zwei Farbkörper (je 100 g): Liegen bei ca. 8-15 € pro Döschen, aber die reichen ewig.
- Eine gute FFP3-Maske und Schutzbrille: Nicht verhandelbar!
- Kleiner Hammer, Pinsel, einfache Modellierhölzer: Ein Starter-Set gibt’s oft für 10-15 €.
Woher bekomme ich das Zeug?
Gute Anlaufstellen sind Online-Shops für Töpferbedarf. Sucht mal nach Namen wie Keramik-Kraft, Carl Jäger oder auch im Künstlerbedarf wie Boesner. Die haben meist alles, was das Herz begehrt.

Und so geht’s:
- Rolle eine ca. 5 mm dicke Platte aus deinem Paperclay aus.
- Aus einem Rest des Materials (eingefärbt oder nicht) stellst du deine Scherben her (denk dran: knochentrocken für scharfe Kanten!).
- Rühre etwas Paperclay mit Wasser zu einem dicken Schlicker an.
- Bestreiche deine Testplatte mit Schlicker und arrangiere die Scherben darauf. Drück sie leicht an.
- Lass alles sehr, sehr langsam trocknen (am besten unter einer losen Plastikfolie für ein paar Tage).
- Ab zum Brennservice damit!
Wenn die ersten Versuche schiefgehen – Scherben abfallen oder Risse entstehen – keine Panik! Das ist Teil des Prozesses. Meist lag es an zu schnellem Trocknen oder der Schlicker hatte nicht die richtige Konsistenz. Führt am besten ein kleines Protokoll, dann lernt ihr aus jedem Fehler.
Mein Fazit als alter Werkstatthase
Solche Kunstwerke sind der beste Beweis dafür, was passiert, wenn künstlerische Vision auf tiefes handwerkliches Wissen trifft. Sie zeigen, dass man ein Material nicht unterwerfen muss. Man muss es verstehen, mit ihm spielen und seine Grenzen ausloten.

Für mich ist das eine wichtige Erinnerung. Im Alltag, der oft von Aufträgen und Funktionalität geprägt ist, vergisst man manchmal das spielerische Experimentieren. Diese Kunst aus Scherben inspiriert dazu, den Ton mal wieder neu zu entdecken und das Risiko des Scheiterns als Teil des Spaßes zu sehen. Denn am Ende sind es nicht nur die perfekten Tassen im Regal, die uns prägen, sondern auch die Scherben auf dem Werkstattboden, aus denen wir lernen und wachsen.
Bildergalerie


Muss man dafür Omas gutes Meissener Porzellan zerschlagen?
Keine Sorge! Viele Künstler durchstöbern Flohmärkte nach angeschlagenem Geschirr, das sonst niemand mehr will. Eine andere Quelle sind Manufakturen wie Rosenthal oder KPM, die manchmal Ausschussware (sogenannte „B-Ware“) mit kleinen Fehlern verkaufen. Und ja, manche Künstler kreieren und brennen ihre eigenen Porzellanplatten, nur um sie dann für ihre Werke gezielt zu zerbrechen und die volle Kontrolle über Farbe und Dicke zu haben.

Die japanische Kunst des Kintsugi betrachtet Bruch und Reparatur als Teil der Geschichte eines Objekts, nicht als etwas, das man verbergen sollte.
Diese jahrhundertealte Philosophie ist der geistige Vorfahre der modernen Scherbenkunst. Während beim Kintsugi die ursprüngliche Form wiederhergestellt und die „Narbe“ mit Gold veredelt wird, geht die hier gezeigte Kunst einen Schritt weiter: Sie erschafft aus den Fragmenten eine völlig neue Form und feiert so die Transformation selbst.

Wer selbst mit Scherben arbeiten will, braucht mehr als nur Geduld. Die richtige Ausrüstung ist entscheidend für Präzision und Sicherheit:
- Eine Schutzbrille – oberstes Gebot! Porzellansplitter sind extrem scharf.
- Pinzetten in verschiedenen Größen für das exakte Platzieren filigraner Teile.
- Ein Multitool wie ein Dremel, um Kanten bei Bedarf sanft zu schleifen oder anzupassen.
- Ein hochfester Zweikomponentenkleber, z.B. Araldite Crystal, der glasklar aushärtet.

Der entscheidende Wandel im Denken: Statt den perfekten, unversehrten Teller zu wollen, sucht der Künstler die Schönheit in der Bruchlinie. Jede Kante wird zum Pinselstrich, jede Scherbe zu einem Baustein für etwas völlig Neues und Unerwartetes. Es ist die bewusste Abkehr von der Makellosigkeit hin zu einer komplexeren, gebrochenen Ästhetik.

Das Sortieren der Scherben ist ein fast meditativer Prozess. Das leise Klirren, wenn die Stücke auf dem Arbeitstisch ausgebreitet werden. Die kühle, glatte Oberfläche unter den Fingerspitzen, unterbrochen von der rasiermesserscharfen Bruchkante. Man sucht nicht nach passenden Teilen wie bei einem Puzzle, sondern nach Formen, Kurven und Texturen, die eine neue Geschichte erzählen können.

- Eine organische, fast gewachsene Struktur.
- Faszinierende Lichtbrechungen an unzähligen Kanten.
- Eine visuelle Tiefe, die eine glatte Oberfläche nie erreicht.
Das Geheimnis liegt oft im kontrollierten Bruch. Statt eines einzigen Hammerschlags wird das Porzellan oft entlang vorgezeichneter Linien oder unter Spannung gebrochen, um gezielt bestimmte Formen und Größen von Scherben zu erzeugen.

Moderner Epoxidharz-Kleber: Die schnelle und zugängliche Wahl. Er härtet transparent und extrem fest in wenigen Stunden aus. Ideal für Künstler, die auf Effizienz und eine fast unsichtbare Verbindung setzen.
Traditioneller Urushi-Lack: Die Methode des Kintsugi. Dieser Baumharzlack braucht Wochen zum Aushärten, ist aber unglaublich langlebig. Er wird oft mit Goldpuder gemischt, um die Bruchstellen zu zelebrieren.
Für rein skulpturale Arbeiten ist Epoxidharz praktischer, während Urushi eine tiefere, philosophische Dimension hinzufügt.

Der Schmelzpunkt von reinem Gold liegt bei 1064 °C, während Porzellan erst bei über 1200 °C gebrannt wird.
Das erklärt, warum Golddekore auf Porzellan immer „Aufglasurmalerei“ sind. Sie werden in einem dritten, niedriger temperierten Brand nach der eigentlichen Glasur aufgetragen. Würde man es mit der Hauptglasur brennen, würde das Edelmetall einfach verdampfen. Ein Detail, das die technische Komplexität selbst bei klassischem Geschirr verdeutlicht.
Nicht alle Scherben müssen weiß bleiben. Farbe kann die Dynamik einer Skulptur völlig verändern und gezielte Akzente setzen. Einige Techniken dafür sind:
- Eingefärbte Porzellanmasse: Schon vor dem ersten Brand werden der Masse Farbpigmente beigemischt, sodass die Scherben durch und durch farbig sind.
- Glasierte Kanten: Die Bruchkanten der weißen Scherben werden vor dem Zusammenfügen mit farbiger Glasur, etwa von Botz oder Duncan, bemalt und erneut bei niedrigerer Temperatur gebrannt.
- Farbiges Fugenmaterial: Statt eines transparenten Klebers wird ein eingefärbtes Harz verwendet, das die Linien zwischen den Fragmenten hervorhebt.




