Sanieren 2.0: Warum Anbauen schlauer ist als Einpacken oder Abreißen
In meinem Job auf dem Bau hab ich schon so einiges kommen und gehen sehen. Viel zu oft höre ich den Satz: „Der alte Kasten ist nicht mehr zu retten, Abreißen ist billiger.“ Kurz darauf rückt der Bagger an, und was jahrzehntelang stand, ist in ein paar Tagen nur noch ein Haufen Schutt. Aber ganz ehrlich? Jedes Mal tut mir das in der Seele weh. Denn da geht mehr verloren als nur Beton und Stahl. Weg ist die ganze „graue Energie“, die schon im ursprünglichen Bau steckt. Weg sind oft bezahlbare Wohnungen. Und für die Leute, die dort gelebt haben, ist ein Stück Heimat weg.
Inhaltsverzeichnis
- 1 Das altbekannte Problem: Warum diese Wohnblöcke uns Kopfzerbrechen bereiten
- 2 Die Technik dahinter: Eine intelligente zweite Haut statt dicker Jacke
- 3 Butter bei die Fische: Was kostet der Spaß im Vergleich?
- 4 Der entscheidende Vorteil: Sanieren, während die Leute drin wohnen
- 5 Lässt sich das auf Deutschland übertragen? Na klar!
- 6 Fazit: Eine Lektion in Demut und cleverem Bauen
- 7 Bildergalerie
Deshalb werde ich immer hellhörig, wenn jemand einen anderen, einen klügeren Weg geht. Eines der besten Beispiele dafür habe ich nicht bei uns um die Ecke, sondern in Paris gesehen. Ein auf den ersten Blick unansehnlicher Wohnblock aus der Nachkriegszeit, den viele schon abgeschrieben hatten. Die Architekten dort haben etwas Geniales gemacht: Sie haben das Gebäude nicht entkernt oder abgerissen. Sie haben ihm eine neue Haut gegeben. Eine intelligente, zweite Hülle, die einfach alles verändert hat.

Das ist weit mehr als nur eine nette Idee. Es ist eine knallharte Antwort auf die wichtigsten Fragen unserer Zeit: Wie schaffen wir guten Wohnraum, ohne die Umwelt zu killen? Wie können wir unsere Städte erneuern, ohne die Leute zu verdrängen? Als Handwerker, der jeden Tag auf der Baustelle steht, sehe ich darin eine echte Blaupause für unsere Arbeit in Deutschland. Denn solche Wohnblöcke gibt es bei uns zu Tausenden.
Das altbekannte Problem: Warum diese Wohnblöcke uns Kopfzerbrechen bereiten
Wer schon mal in einer unsanierten Wohnung aus dieser Zeit gelebt hat, kennt das Spiel. Im Winter pfeift der Wind durch die Fenster, die Wände fühlen sich klamm an und die Heizung glüht, ohne dass es richtig warm wird. Die Heizkostenabrechnung ist dann der finale K.o.-Schlag. Diese Gebäude waren damals okay, als Energie quasi nichts kostete und „Wärmedämmung“ ein Fremdwort war.
Aus Handwerkersicht sind die Schwachstellen glasklar:
- Die Gebäudehülle: Oft nur nackter Beton oder simples Mauerwerk. Dämmung? Fehlanzeige. Man heizt quasi den Spatzen auf dem Dach den Hintern warm. Enorme Wärmeverluste sind die Folge.
- Fiese Wärmebrücken: Das sind die Autobahnen für die Kälte. Klassiker sind durchgehende Balkonplatten aus Beton oder ungedämmte Fensterstürze. Diese Stellen sind nicht nur Energieverschwender, sondern auch die Brutstätten für Schimmel.
- Veraltete Fenster: Meistens sind noch alte Doppel- oder sogar nur Einfachverglasungen drin. Deren U-Wert (der Wert für den Wärmeverlust) ist im Vergleich zu moderner Dreifachverglasung eine reine Katastrophe.
- Enge, dunkle Grundrisse: Die Wohnungen sind oft klein, die Zimmer haben was von einer Höhle und die Balkone sind bessere Blumenbretter. Das will heute einfach keiner mehr.
Die deutsche Standardlösung war lange: Einpacken! Man klatscht ein Wärmedämmverbundsystem (WDVS) auf die Fassade, tauscht die Fenster und macht die Technik neu. Energetisch ist das ein riesiger Sprung nach vorn und erfüllt die Anforderungen des Gebäudeenergiegesetzes (GEG). Aber – und das ist der Haken – die Wohnung selbst wird dadurch nicht besser. Sie ist warm, aber immer noch eng und dunkel. Und genau hier setzt der Pariser Ansatz an und denkt einen entscheidenden Schritt weiter.

Die Technik dahinter: Eine intelligente zweite Haut statt dicker Jacke
Die Grundidee der Planer war, die bestehende Struktur komplett zu erhalten. Anstatt das Gebäude von außen dick einzupacken, haben sie in einem Abstand von etwa drei Metern eine komplett neue, leichte Fassade vor die alte gesetzt. Was dadurch entstand? Großzügige Wintergärten und riesige Balkone vor jeder Wohnung.
1. Statik und Vorfertigung: Das Geheimnis der Geschwindigkeit
Die erste Frage, die sich jeder Statiker stellt: Hält das alte Gebäude die zusätzliche Last überhaupt aus? Die Lösung war so elegant wie simpel: Die neue Konstruktion aus Stahl und Glas steht auf einem eigenen Fundament. Sie trägt sich also komplett selbst und gibt ihr Gewicht nicht an den Altbau ab. Das ist der entscheidende Kniff! Ohne einen erfahrenen Tragwerksplaner, der die alten Pläne analysiert und den Baugrund checkt, ist so was natürlich undenkbar.
Ein weiterer cleverer Schachzug war die Vorfertigung. Die neuen Balkon- und Wintergartenmodule wurden komplett im Werk zusammengebaut – inklusive Bodenbelägen, Geländern und den großen Glasschiebeelementen. Auf der Baustelle mussten sie dann nur noch per Kran an die richtige Stelle gehoben und angedockt werden. Die Vorteile liegen auf der Hand:

- Tempo: Die Belästigung für die Bewohner wird auf ein Minimum reduziert. Statt monatelangem Lärm und Dreck an der Fassade wird jedes Modul in kürzester Zeit montiert.
- Qualität: Die Fertigung im Werk ist viel präziser als die Bastelei bei Wind und Wetter auf der Baustelle.
- Sicherheit: Weniger offene Bauphasen bedeuten weniger Risiko für Unfälle oder Wasserschäden am alten Gebäude.
Ich erinnere mich noch gut an eine Baustelle in Brandenburg, wo wir mit vorgefertigten Holzrahmenelementen gearbeitet haben. Morgens war da eine nackte Betonwand, abends hatten die Leute einen fertigen, verglasten Erker vor dem Wohnzimmer. Die Gesichter der Anwohner – unbezahlbar! Das ist Effizienz, die man anfassen kann.
2. Bauphysik: Wie der Wintergarten zur passiven Heizung wird
Das Herzstück des Ganzen ist der Wintergarten. Er ist nicht nur ein schicker neuer Raum, sondern ein zentraler Teil der neuen thermischen Hülle. Stell dir das so vor: Der unbeheizte Glasraum wirkt wie eine Pufferzone zwischen der eiskalten Außenluft und der warmen Wohnung. Wenn die Sonne scheint (ja, auch im Winter!), heizt sich die Luft im Wintergarten ordentlich auf. Diese vorgewärmte Luft liegt dann an der alten Außenwand an, und der Wärmeverlust aus der Wohnung wird dramatisch reduziert.

Im Sommer funktioniert das System genau umgekehrt. Die großen Schiebetüren des Wintergartens lassen sich komplett öffnen, und schon hat man einen riesigen, überdachten Balkon. Die Luft kann zirkulieren und verhindert eine Überhitzung. Die Bewohner steuern das Klima also selbst – mit Fenstern und Vorhängen. Das ist gelebte Nachhaltigkeit, anstatt den Leuten eine komplizierte Technik vorzuschreiben.
Kleiner Exkurs für die Profis: Für den Nachweis nach GEG ist das gar nicht so kompliziert. Ein Bauphysiker berechnet das Ganze als „thermische Pufferzone“. Der U-Wert der alten Wand wird mit dem zusätzlichen Wärmedurchlasswiderstand der neuen Glashülle kombiniert. So entsteht ein neuer, effektiver U-Wert, der die Anforderungen oft locker erfüllt, vor allem wenn man die solaren Gewinne mit einrechnet. Es funktioniert also nicht nur in der Praxis, sondern auch auf dem Papier für die Baubehörde.
Butter bei die Fische: Was kostet der Spaß im Vergleich?
Jetzt kommt die Frage aller Fragen: Ist das nicht unbezahlbar? Schauen wir uns die Alternativen mal ehrlich an. Bitte beachte, das sind grobe Richtwerte, die je nach Region und Standard stark schwanken können.

Eine klassische Sanierung mit WDVS ist auf den ersten Blick am günstigsten. Du liegst hier je nach Dämmstoff und Aufwand bei etwa 150 € bis 250 € pro Quadratmeter Fassadenfläche. Das Problem: Du gewinnst keinen einzigen Quadratmeter Wohnqualität, die Grundrisse bleiben eng, die Balkone klein. Es ist eine reine Instandhaltung.
Der Abriss und komplette Neubau ist die teuerste Variante. Hier explodieren die Kosten in städtischen Lagen schnell auf 4.000 € bis über 6.000 € pro Quadratmeter neuer Wohnfläche. Dazu kommen die Kosten für den Abriss und die Entsorgung von Tonnen an Bauschutt – eine enorme Belastung für Umwelt und Geldbeutel.
Und die „Zweite-Haut-Methode“? Die landet preislich clever dazwischen. Rechnen wir mal mit Kosten von ca. *1.500 € bis 2.500 € pro Quadratmeter neu geschaffener Fläche (also für den Wintergarten/Balkon). Das klingt erstmal nach viel. Aber der Clou ist: Du bekommst für dein Geld nicht nur eine Top-Energiesanierung, sondern auch 20-30 qm mehr Wohnfläche pro Wohnung! Dieser Mehrwert steigert den Immobilienwert enorm und schafft eine ganz neue Lebensqualität. Plötzlich sieht die Rechnung ganz anders aus, oder?

Der entscheidende Vorteil: Sanieren, während die Leute drin wohnen
Das ist für mich als Praktiker der absolute Hammer: Die Bewohner mussten während der gesamten Bauzeit nicht aus ihren Wohnungen ausziehen. Das ist sozial und finanziell ein Segen. Kein teurer Umzug, keine Suche nach einer Übergangswohnung, keine Zerstörung von funktionierenden Nachbarschaften.
Klar, das stellt höchste Anforderungen an uns auf der Baustelle. Zuerst wird die alte Betonbrüstung unter dem Fenster rausgeschnitten und provisorisch gesichert. Dann wird von außen das neue Modul angedockt. Sobald es dicht ist, kann die Wand zwischen Wohnung und Wintergarten komplett geöffnet werden. Für die Bewohner bedeutet das ein paar Wochen Lärm und Staub. Aber am Ende haben sie eine viel größere, lichtdurchflutete Wohnung. Das erfordert eine Top-Planung und super Kommunikation. Ich predige meinen Leuten immer: „Auf einer bewohnten Baustelle seid ihr Gäste. Benehmt euch auch so!“
Achtung, Fallstricke! Meine Tipps aus der Praxis:
So ein Projekt kann auch schiefgehen. Hier sind die häufigsten Fehler und wie du sie vermeidest:

- Falle 1: Den Bestandsplänen blind vertrauen. Ganz schlechte Idee. Die sind oft veraltet oder ungenau. Lösung: Immer ein eigenes Aufmaß machen, am besten mit einem modernen 3D-Laserscan. Das kostet anfangs etwas, erspart aber später teure Überraschungen.
- Falle 2: Die Bewohner fühlen sich übergangen. Wenn die Leute nicht wissen, was passiert, gibt es Ärger. Lösung: Einen festen Ansprechpartner benennen und eine wöchentliche „Baustellen-Sprechstunde“ mit Kaffee anbieten. Transparenz ist alles!
- Falle 3: Brandschutz und Anschlüsse vernachlässigen. Die neue Fassade darf im Brandfall nicht zur Feuerleiter werden. Lösung: Von Anfang an einen Brandschutzsachverständigen ins Boot holen. Der legt die Details für die Anschlüsse und die Materialwahl (gemäß DIN 4102 oder EN 13501-1) fest, die wir Handwerker dann exakt umsetzen müssen.
Lässt sich das auf Deutschland übertragen? Na klar!
Jetzt höre ich schon die Kollegen: „Schöne Story aus Paris. Aber bei uns mit unseren Vorschriften?“ Meine Antwort: Ein klares Ja! Gerade in Ostdeutschland haben wir riesige Bestände an Plattenbauten, die sich perfekt für so eine Transformation eignen. Die Grundstruktur ist oft unverwüstlich.

Natürlich müssen wir unsere Regeln beachten. Das Gebäudeenergiegesetz (GEG) gibt die Ziele vor. Die KfW-Bank fördert solche umfassenden Sanierungen massiv, wenn ein Effizienzhaus-Standard erreicht wird. Hier kommt der Energie-Effizienz-Experte (EEE)* ins Spiel. Den brauchst du zwingend, um die Förderungen zu beantragen (z. B. aus dem Programm „BEG Wohngebäude – Kredit 261“). Er rechnet alles durch und bestätigt der Bank die Einhaltung der Standards. Das macht das Ganze auch wirtschaftlich extrem attraktiv.
Für die Genehmigung brauchst du einen normalen Bauantrag, eingereicht von einem bauvorlageberechtigten Architekten oder Ingenieur. Aber das ist Standardgeschäft.
Fazit: Eine Lektion in Demut und cleverem Bauen
Dieses Pariser Projekt ist für mich mehr als nur Architektur. Es ist eine Haltung. Der Beweis, dass man mit Respekt vor dem Bestehenden und technischer Intelligenz bessere Ergebnisse erzielt als mit der Abrissbirne.
Was wir daraus mitnehmen können, ist Gold wert:
- Denk in Systemen, nicht in Einzelteilen: Es geht nicht nur darum, eine Dämmplatte an die Wand zu kleben. Es geht darum, eine neue Hülle zu schaffen, die heizt, kühlt, lüftet und neuen Lebensraum schafft.
- Erkenne das Potenzial im Bestand: Jedes alte Gebäude ist eine Material- und Energiebank. Unsere Aufgabe ist es, diese Werte zu nutzen und weiterzuentwickeln, statt sie zu vernichten.
- Zusammenarbeit ist alles: Architekten, Statiker, Bauphysiker und wir Handwerker müssen von Tag eins an einem Tisch sitzen. Nur so funktioniert’s.
- Der Mensch im Mittelpunkt: Am Ende bauen wir für die Leute, die drin leben. Ihr Bedürfnis nach Licht, Raum und Komfort ist der einzige Maßstab, der zählt.
Vielleicht ist es an der Zeit, dass wir uns öfter fragen: Muss das wirklich weg? Oder können wir es einfach besser machen? Die Profis in Paris haben gezeigt, dass es geht. Mit weniger Material, weniger Kosten als ein Neubau und einem riesigen Gewinn an Lebensqualität. Das ist für mich die Zukunft des Bauens.

Bildergalerie


Die Holz-Variante: Vorgefertigte Module im Holzrahmenbau. Sie sind leicht, dämmen hervorragend und bringen eine warme, natürliche Ästhetik. Der hohe Vorfertigungsgrad, wie ihn Anbieter wie Lignotrend oder SchwörerHaus für Elemente nutzen, verkürzt die Bauzeit vor Ort drastisch.
Die Stahl-Glas-Lösung: Eine filigrane Tragstruktur aus Stahl, die großflächige Verglasungen ermöglicht. Ideal für Wintergärten und Loggien, die maximalen Lichteinfall bieten. Hier kommen oft Systeme von Herstellern wie Schüco zum Einsatz, die thermisch getrennte Profile für höchste Effizienz liefern.
Beide Methoden setzen auf Präzision aus dem Werk und minimieren so Lärm und Störungen für die Bewohner – ein entscheidender Vorteil gegenüber einer Kernsanierung.
Die Sanierung des Tour Bois le Prêtre in Paris reduzierte den Energieverbrauch um mehr als die Hälfte und vergrößerte jede Wohnung um durchschnittlich 25 Quadratmeter – bei gleichbleibender Miete.
Diese Zahlen sind mehr als nur eine technische Bilanz. Sie bedeuten für die Bewohner eine spürbare Entlastung bei den Heizkosten und einen enormen Gewinn an Lebensqualität. Statt kleiner, dunkler Räume entstehen helle Wohnbereiche und geschützte Wintergärten. Gleichzeitig werden durch den Erhalt des Rohbaus rund 1.900 Tonnen CO2 an „grauer Energie“ gespart, was dem Ausstoß von über 1.000 Autos in einem Jahr entspricht. Eine Sanierung, die sich für den Geldbeutel, das Wohlbefinden und den Planeten auszahlt.



