Dein Longboard verstehen: Ein ehrlicher Guide aus der Werkstatt
Seit über zwei Jahrzehnten lebe ich quasi in meiner Werkstatt. Ich kenne den Geruch von frischem Ahornholz und Epoxidharz besser als jedes Parfum und das Geräusch von Urethan-Rollen auf Asphalt ist für mich Musik. In all der Zeit habe ich eines gelernt: Ein Longboard ist so viel mehr als nur ein Brett mit vier Rädern. Es ist ein fein abgestimmtes System, bei dem jedes Teil perfekt zusammenspielen muss. Wenn da was nicht passt, fühlt sich selbst das teuerste Deck irgendwie… lahm an. Ein perfekt eingestelltes Board hingegen fühlt sich an wie eine Verlängerung deines eigenen Körpers.
Inhaltsverzeichnis
- 1 Das Herzstück: Was ein gutes Deck wirklich ausmacht
- 2 Die Lenkung: Warum die Achsen das Wichtigste sind
- 3 Der Kontakt zur Straße: Rollen, Lager und der ABEC-Mythos
- 4 Welches Werkzeug für welche Arbeit? Die Board-Typen im Überblick
- 5 Sicherheit: Ein Wort, das nicht zur Debatte steht
- 6 Fazit: Finde dein perfektes Setup
Ich sehe es leider viel zu oft: Jemand kommt rein, geblendet von einer coolen Grafik oder einem Hype, und kauft ein Brett, das absolut nicht zum eigenen Gewicht oder Fahrstil passt. Das ist echt schade, denn so geht ein riesiger Teil des Fahrspaßes von vornherein flöten. Mein Ziel hier ist es nicht, dir irgendein Produkt anzudrehen. Ich will dir das Wissen an die Hand geben, das ich über die Jahre gesammelt habe, damit du selbst verstehst, was da unter deinen Füßen passiert. Also, komm mit auf einen kleinen Werkstattbesuch – wir schauen uns die Teile mal ganz genau an.

Das Herzstück: Was ein gutes Deck wirklich ausmacht
Alles fängt beim Deck an. Das ist deine Plattform, dein Fundament. Aber Holz ist nicht gleich Holz, und eine Form ist nicht einfach nur eine Form. Genau hier zeigt sich, wer sein Handwerk versteht.
Mehr als nur ein Stück Holz: Die Physik dahinter
Die meisten Decks bestehen aus dünnen Holzschichten, sogenannten Furnieren. In der Regel ist das kanadischer Ahorn – und das aus gutem Grund. Ahorn ist verdammt hart, widerstandsfähig und hat diesen knackigen „Pop“, den man für ein lebendiges Fahrgefühl braucht. Üblicherweise werden 7 bis 9 dieser Schichten mit einem speziellen Harz unter massivem Druck in Form gepresst. Aber Achtung, es gibt Unterschiede.
Die klassische Bauweise ist die horizontale Laminierung, also Schicht auf Schicht. Manchmal liest man aber auch von vertikal laminierten Kernen, oft bei Decks aus Bambus. Da werden dünne Bambusstreifen hochkant nebeneinander verleimt. Das Ergebnis ist ein komplett anderer Flex – viel federnder, lebendiger. Es gibt hier kein „besser“, nur ein „anders“. Ein Ahorn-Deck ist steif, direkt und präzise. Ein Bambus-Deck ist oft nachgiebiger und schluckt Vibrationen auf rauem Asphalt deutlich besser.

Aber das Material ist nur die halbe Miete. Die Formgebung ist das, was du am Ende spürst:
- Concave: Das ist die seitliche Wölbung nach innen. Stell dir vor, du stehst auf einem komplett flachen Brett – deine Füße hätten null Halt. Eine leichte, U-förmige Wölbung (Concave) gibt dir Halt und erlaubt es dir, in Kurven richtig Druck auf die Kante zu geben. Es gibt da verschiedene Ausprägungen, von einfachen Bögen bis hin zu einem „W-Concave“ mit einer zusätzlichen Erhebung in der Mitte, was dir vor allem beim Sliden unglaublich viel Kontrolle über den hinteren Fuß gibt.
- Camber & Rocker: Schau dir das Deck mal von der Seite an. Ein Deck mit Camber wölbt sich in der Mitte leicht nach oben. Wenn du dich draufstellst, wird es flach gedrückt und gibt dir beim Herausbeschleunigen aus der Kurve einen kleinen Energie-Kick zurück. Das fühlt sich super lebendig an. Ein Deck mit Rocker ist das genaue Gegenteil: Es hängt in der Mitte leicht durch, wie eine ganz flache Hängematte. Das bringt dich näher an den Boden, was für mehr Stabilität sorgt und sich einfach sicherer anfühlt.
Der Flex, also wie stark sich das Brett durchbiegt, ist eine Wissenschaft für sich. Er hängt vom Material, den Schichten, der Form und ganz entscheidend von deinem Körpergewicht ab. Ein weicher Flex ist genial zum gemütlichen Cruisen, weil er Unebenheiten einfach wegbügelt. Bei hohem Tempo ist er aber ein Albtraum – das Board fängt an zu flattern und wird unkontrollierbar. Ein steifes Deck gibt dir dagegen brutale Kontrolle und Stabilität bei Speed. Das erste, was meine Azubis lernen, ist, den Flex eines Decks richtig einzuschätzen.
Moderne Werkstoffe: Wenn Holz Verstärkung braucht
Manchmal wird Holz mit anderen Materialien kombiniert, um bestimmte Eigenschaften zu erzielen. Schichten aus Fiberglas können einem Deck mehr „Snap“ geben, also ein schnelleres Rückfederungsverhalten. Carbonfasern machen ein Deck extrem steif und gleichzeitig federleicht. Das ist natürlich Hightech und hat seinen Preis. Aber ganz ehrlich: Für 95 % aller Fahrer ist ein gut gemachtes Holzdeck absolut perfekt. Es kommt immer auf die Verarbeitung an, nicht nur auf das Material.
Die Lenkung: Warum die Achsen das Wichtigste sind
Die Achsen (Trucks) sind das Lenkgetriebe deines Boards. Und hier wird so viel falsch gemacht. Eine miese Achse auf einem super Deck ist wie ein Billig-Fahrwerk in einem Porsche. Es funktioniert einfach nicht.
Eine Achse besteht grob aus der Baseplate (die am Deck festgeschraubt ist), dem Hanger (das T-Stück mit der Achse für die Rollen) und dem Kingpin (die große Schraube, die alles zusammenhält). Das Wichtigste sind aber die zwei kleinen Gummis auf dem Kingpin: die Bushings. Sie sind die Seele deiner Lenkung.
Der große Unterschied bei Longboard-Achsen ist die Geometrie. Fast alle nutzen sogenannte Reverse Kingpin (RKP) Achsen, bei denen der Kingpin nach außen zeigt. Die sind für smoothes Carven und Stabilität bei höherem Tempo gemacht. Der Winkel der Baseplate, oft zwischen 40 und 50 Grad, entscheidet, wie wendig die Achse ist. Ein höherer Winkel (50°) lenkt aggressiver, ein niedrigerer (um die 44°) ist stabiler bei Speed. Seltener findet man Traditional Kingpin (TKP) Achsen, wie man sie vom Skateboard kennt. Die sind reaktionsfreudiger und eher für Tricks und enge Stadtkurven gedacht.
Bushings: Das günstigste und beste Tuning deines Lebens
Ich kann es nicht oft genug sagen: Die Bushings sind das wichtigste Teil an deinem Board! Die Standard-Bushings, die bei Komplettboards verbaut sind, sind oft nur ein Kompromiss und passen selten perfekt zu deinem Gewicht. Das ist, als würdest du in Schuhen herumlaufen, die drei Nummern zu groß sind.
Gut zu wissen: Bushings gibt es in verschiedenen Härten (gemessen in Durometer „a“) und Formen. Die richtige Härte hängt direkt von deinem Gewicht ab. Hier mal eine ganz simple Faustregel, die sich über die Jahre bewährt hat:
- Unter 65 kg: Schau dich im Bereich von 80a bis 85a um.
- Zwischen 65 und 85 kg: Hier liegst du mit 85a bis 90a meist goldrichtig.
- Über 85 kg: Alles ab 90a aufwärts gibt dir die nötige Stabilität.
Ein neuer Satz Bushings kostet dich vielleicht 10 bis 15 € und verändert das Fahrgefühl deines Boards komplett. Das ist das mit Abstand effektivste und günstigste Upgrade, das du machen kannst!
Kleiner Tipp zum sofort Ausprobieren: Schnapp dir dein Board und ein Skate-Tool (oder einen passenden Schlüssel). Dreh die große Mutter auf dem Kingpin mal nur eine Viertelumdrehung lockerer oder fester. Fahr eine kleine Runde. Merkst du den Unterschied? Allein damit kannst du schon spüren, wie stark die Einstellung der Achse das Lenkverhalten beeinflusst.
Der Kontakt zur Straße: Rollen, Lager und der ABEC-Mythos
Deine Rollen (Wheels) sind die Reifen deines Longboards. Sie entscheiden über Geschwindigkeit, Grip und wie sanft du über rauen Asphalt gleitest.
Urethan ist nicht gleich Urethan
Klar, alle Rollen sind aus Polyurethan, aber die genaue Mischung ist ein gut gehütetes Geheimnis der Hersteller. Worauf du aber achten kannst, sind Größe, Härte und die Form der Kante (Lip).
- Größe: Größere Rollen (70-75 mm) halten die Geschwindigkeit besser und rollen locker über kleine Risse im Boden. Kleinere Rollen (60-65 mm) beschleunigen flotter und sind leichter, was bei Tricks hilft.
- Härte: Weiche Rollen (ca. 78a-80a) kleben förmlich am Boden und bieten mega Komfort – perfekt zum Cruisen. Härtere Rollen (ab 83a) sind schneller, weil sie weniger Rollwiderstand haben, aber auch rutschiger. Das will man aber, wenn man sliden lernen möchte.
- Kante (Lip): Eine scharfe, eckige Kante beißt sich in den Asphalt und gibt dir maximalen Grip in Kurven. Eine abgerundete Kante bricht leichter aus und ermöglicht kontrollierte Drifts.
Kugellager und warum ABEC 9 oft Quatsch ist
Ich sehe ständig Leute, die mit „ABEC 9“-Lagern prahlen. Aber Achtung! Die ABEC-Skala sagt nur etwas über die Fertigungstoleranz aus, also wie präzise ein Lager gefertigt ist. Sie sagt absolut nichts über die Qualität des Stahls, die Schmierung oder die Haltbarkeit aus. Ein hochwertiges, gut gepflegtes ABEC 5 Lager von einem Markenhersteller ist um Welten besser als ein billiges ABEC 9 No-Name-Produkt, das nach dem ersten Regen rostet. Ein guter Satz Markenlager kostet dich um die 20-30 € und ist jeden Cent wert.
Viel wichtiger ist die Pflege. Fährst du durch eine Pfütze, spült das Wasser das Fett aus den Lagern und sie fangen an zu rosten. Und glaub mir, das Geräusch von trockenen, rostigen Lagern ist für mich die reinste Folter.
Mini-Tutorial: So machst du deine Lager wieder flott (dauert ca. 30 Minuten):
- Rollen abschrauben und die Lager vorsichtig mit dem Achsstift oder einem Skate-Tool aus den Rollen hebeln.
- Die kleinen Gummidichtungen (Shields) an der Seite ganz vorsichtig mit einer Nadel oder der Spitze eines Cuttermessers abhebeln.
- Die offenen Lager in ein kleines, verschließbares Glas (z.B. ein altes Marmeladenglas) legen und mit Reinigungsbenzin oder Isopropanol aus dem Baumarkt auffüllen. Deckel drauf und kräftig schütteln!
- Lager rausnehmen, auf ein Küchentuch legen und komplett trocknen lassen. Das ist wichtig, keine Restfeuchtigkeit!
- Jetzt in jedes Lager 1-2 Tropfen spezielles Lageröl (Speed Cream o.Ä.) geben. Nicht zu viel! Weniger ist hier mehr.
- Dichtungen wieder draufklicken, Lager zurück in die Rollen pressen, fertig! Dein Board wird rollen wie am ersten Tag.
Welches Werkzeug für welche Arbeit? Die Board-Typen im Überblick
Jetzt wo du die Einzelteile kennst, schauen wir uns mal an, wie sie zu verschiedenen Board-Typen kombiniert werden. Es gibt für jeden Zweck das richtige Werkzeug.
Das sind die klassischen Allrounder für die Stadt. Meist etwas kürzer, wendig und mit einem leichten Flex, der das Fahren super angenehm macht. Sie sind perfekt, um zur Uni zu rollen oder entspannt durch den Park zu gleiten. Für Anfänger ist das oft der ideale Einstieg. Ein solides Komplettboard in dieser Kategorie bekommst du schon für ca. 150 € bis 250 €.
Drop-Through & Drop-Down: Die Stabilen für längere Strecken
Bei diesen Bauarten wird deine Standfläche tiefergelegt. Das senkt den Schwerpunkt, was für enorme Stabilität sorgt und das Anschieben (Pushen) viel weniger anstrengend macht. Bei Drop-Through-Decks wird die Achse von oben durch das Deck montiert. Bei Drop-Down-Decks hat das Brett selbst einen Knick nach unten. Beide sind fantastisch für längere Strecken und die ersten Versuche mit etwas mehr Geschwindigkeit.
Top-Mount: Die Direkten für maximale Kontrolle
Hier wird die Achse ganz klassisch von unten ans Deck geschraubt. Du stehst direkt über den Achsen, was dir maximale Hebelwirkung und eine super direkte Lenkung gibt. Das gibt unheimlich viel Grip in den Kurven, ist aber auch etwas weniger fehlerverzeihend. Die meisten Profis im Downhill- und Freeride-Bereich schwören auf diese Bauweise wegen der präzisen Kontrolle.
Downhill-Boards: Gebaut für puren Speed
Keine Kompromisse. Diese Decks sind bocksteif, haben oft ein aggressives Concave, um deine Füße bei 80 km/h an Ort und Stelle zu halten. Das sind reine Sportgeräte, die Respekt und zwingend eine komplette Schutzausrüstung erfordern. Ein spezialisiertes Setup kann hier auch mal über 400 € kosten.
Freestyle & Dancing: Die Kreativen
Das sind die Tänzer unter den Longboards. Oft über einen Meter lang, symmetrisch und mit aufgebogenen Enden (Kicks) für Tricks. Hier geht es nicht um Geschwindigkeit, sondern um Board-Kontrolle und einen fließenden Stil. Der federnde Flex macht das „Dancen“, also das Herumlaufen auf dem Board, erst möglich.
Drei häufige Anfängerfehler, die du vermeiden solltest
Aus meiner Erfahrung sehe ich immer wieder dieselben Muster, die den Spaß verderben. Tu dir selbst einen Gefallen und vermeide diese drei Dinge:
- Das falsche Board für den Zweck kaufen: Kauf dir kein supersteifes Downhill-Board, wenn du nur entspannt durch die Stadt zur Arbeit rollen willst. Du wirst es hassen, weil es unkomfortabel und unhandlich ist.
- Die Bushings ignorieren: Wie gesagt, das ist der häufigste Fehler. Ein 15-Euro-Investment in die richtigen Bushings kann dein Board von „okay“ zu „perfekt“ machen.
- Am Helm sparen: Das ist nicht verhandelbar. Ein guter Helm ist deine Lebensversicherung. Mehr dazu jetzt.
Sicherheit: Ein Wort, das nicht zur Debatte steht
Ich habe in meiner Laufbahn genug schlimme Stürze miterlebt. Ein Longboard ist kein Spielzeug, sobald du auf die Straße gehst. Die Physik ist da gnadenlos.
TRAG IMMER EINEN HELM. Immer. Ohne Ausnahme. Auch wenn du nur mal eben zum Bäcker rollst. Ich bin selbst mal bei Schrittgeschwindigkeit wegen eines blöden Kieselsteins gestürzt. Mein Helm hatte danach eine Delle, mein Kopf zum Glück nicht. Seit diesem Tag gibt es für mich bei dem Thema keine Diskussionen mehr. Ein zertifizierter Skate-Helm kostet zwischen 40 € und 80 € – eine lächerlich kleine Investition für deine Gesundheit.
Sobald du schneller wirst oder das Sliden anfängst, sind Knie-, Ellbogenschoner und spezielle Slide-Handschuhe absolute Pflicht. Und lerne, richtig zu fallen: Immer abrollen, niemals versuchen, dich mit ausgestreckten Armen abzufangen. Das ist der direkte Weg zum gebrochenen Handgelenk.
Ach ja, und rechtlich bist du in Deutschland mit dem Longboard übrigens Fußgänger. Das bedeutet, du gehörst offiziell auf den Gehweg und musst deine Geschwindigkeit anpassen. Das ist eine Grauzone, aber sei dir dessen bewusst und fahre immer vorausschauend.
Fazit: Finde dein perfektes Setup
Das perfekte Longboard gibt es nicht von der Stange. Das perfekte Board ist das, das zu dir, deinem Gewicht und deinem Fahrstil passt. Der beste Rat, den ich dir geben kann: Geh in einen echten Fachladen. Nimm die Bretter in die Hand, stell dich drauf. Sprich mit den Leuten dort und frag, ob du mal eine kleine Runde auf dem Parkplatz drehen darfst.
Beginne mit einer soliden Basis und hab keine Angst, später Teile auszutauschen. Ein neuer Satz Rollen oder eben diese berühmten Bushings können einem alten Board wieder völlig neues Leben einhauchen. Das ist ja das Schöne an diesem Hobby: Es ist ein modulares System, das mit dir und deinen Fähigkeiten mitwachsen kann.
Also, pass auf dich auf, hab Respekt vor der Straße und dem Material. Dann wirst du verdammt viele Jahre eine Menge Spaß haben.