Dieser 80.000-Stäbe-Schrank ist der Wahnsinn – Ein Meister packt aus
Als Tischlermeister mit ein paar Jahrzehnten Hobelspänen unter den Nägeln dachte ich eigentlich, ich hätte schon alles gesehen. Schlichte Designs, verschnörkelte Kunstwerke, du weißt schon. Und dann stolpert man über Bilder von einem Möbelstück, das aussieht, als hätte ein Igel mit einem Designermöbel gekuschelt. Mein erster Gedanke war: „Heiliger Bimbam. Wer macht sich denn bitte DIESE Arbeit?“
Inhaltsverzeichnis
- 1 Das Geheimnis der stacheligen Hülle
- 2 Im Inneren: Das Fundament muss bombenfest sein
- 3 Die Mechanik: Wie funktionieren unsichtbare Türen?
- 4 Oberfläche: Streichen? Vergiss es!
- 5 Aber mal ehrlich: Würdest du das Ding zu Hause haben wollen?
- 6 Inspiriert? So holst du den Look im Kleinen nach Hause
- 7 Was wir daraus mitnehmen
Mein zweiter Gedanke war aber der des Handwerkers: Wie zum Teufel funktioniert das? Nicht nur so lala, sondern im Detail.
Ganz ehrlich, dieses Möbel ist mehr als nur ein Schrank. Es ist ein Statement, fast schon eine Provokation. Und für uns Profis aus der Werkstatt ist es eine technische Meisterleistung, vor der man den Hut ziehen muss. Die Oberfläche besteht aus sage und schreibe 80.000 einzeln eingesetzten Holzstäben. Lass dir diese Zahl mal auf der Zunge zergehen. In der Werkstatt predigen wir immer Geduld und Präzision, aber das hier… das ist eine andere Liga. Ein Tanz auf der Kante zwischen Kunst und Handwerk. Und genau deshalb schauen wir uns das jetzt mal ganz genau an.

Das Geheimnis der stacheligen Hülle
Klar, das Auffälligste ist diese irre Außenhaut. Sie lässt den Schrank wie ein gepanzertes Wesen aus einer anderen Welt wirken. Aber hinter dieser wilden Fassade steckt eine Planungstiefe, die es in sich hat. Gehen wir das mal so durch, wie wir es in der Werkstatt tun würden.
Welches Holz für 80.000 Stäbe?
Du kannst nicht einfach zum Baumarkt laufen und irgendein Holz für 80.000 identische Stäbchen kaufen. Das Material muss knallharte Anforderungen erfüllen: hart, zäh und vor allem maßhaltig. Weiches Holz wie Fichte? Vergiss es. Das splittert dir bei der Bearbeitung und die Spitzen brechen ab, wenn du sie nur schief anschaust.
Aus meiner Erfahrung kommen hier eigentlich nur zwei Kandidaten ernsthaft infrage:
- Ahorn: Stell dir vor, du hast die Wahl zwischen zwei Champions. Ahorn ist der elegante Techniker. Europäischer Ahorn ist fast weiß, hat eine superfeine, gleichmäßige Struktur und lässt sich bearbeiten wie Butter – nur dass die Kanten gestochen scharf werden. Er verzieht sich kaum, was bei 80.000 Einzelteilen das A und O ist.
- Esche: Das ist der zähe Athlet. Esche ist noch elastischer als Ahorn und bekannt für seine Langlebigkeit (denk an Werkzeugstiele!). Die Maserung ist lebendiger, was dem Schrank einen etwas rustikaleren Charakter verleihen könnte. Persönlich, für diese extreme Präzision, würde mein Herz aber für den Ahorn schlagen.
Ach ja, und das Holz muss perfekt trocken sein. Wir reden hier von einer Holzfeuchte von 8–10 %, wie es für Möbel im Innenbereich die Norm ist. Wäre es zu feucht, wackeln die Stäbe später. Zu trocken? Dann quellen sie bei normaler Luftfeuchtigkeit auf und könnten dir den ganzen Korpus sprengen. Eine Katastrophe im Zeitraffer.

Fertigung: Wenn High-Tech auf puren Fleiß trifft
Jetzt kommt der Punkt, der die meisten sprachlos macht. Wie bohrt man 80.000 Löcher und schnitzt 80.000 Stäbe? Von Hand ist das unmöglich. Lust auf ein kleines Experiment? Nimm dir ein Stück Restholz, bohre 50 Löcher und leim 50 Holzdübel ein. Stopp die Zeit. Und jetzt rechne das mal auf 80.000 hoch. Verstehst du jetzt den Wahnsinn?
Hier muss moderne Technik ran. Die einzig logische Antwort ist eine 5-Achs-CNC-Fräse. Das ist eine computergesteuerte Maschine, die diese Löcher mit einer Präzision bohrt, von der ein Mensch nur träumen kann. Exakter Abstand, perfekter Winkel, immer gleiche Tiefe. Das zu programmieren ist aufwendig, aber danach arbeitet die Maschine gnadenlos präzise. Das ist kein Verrat am Handwerk, sondern der kluge Einsatz des richtigen Werkzeugs.
Die Stäbe selbst – wir reden hier vermutlich von Rundstäben mit 6 oder 8 Millimetern Durchmesser – werden als Meterware gefertigt und dann automatisch auf die exakte Länge gekappt. Millimeterarbeit im großen Stil.

Das Puzzle: Jeder Stab ein Gebet
So, jetzt stell dir das mal vor: Du hast einen perfekt gebohrten Korpus und einen riesigen Berg mit 80.000 Stäben. Nun beginnt die eigentliche meditative Strafarbeit: das Fügen. Jeder einzelne Stab muss in sein Loch eingeleimt werden.
Kleiner Tipp aus der Praxis: Die Wahl des Leims ist hier kriegsentscheidend. Normaler Weißleim, den du aus dem Baumarkt kennst, hat eine „Offenzeit“ von vielleicht 5-10 Minuten. Viel zu kurz! Du brauchst hier einen Spezialleim, vermutlich einen PU-Leim (Polyurethan), der dir mehr Zeit gibt. So eine Kartusche kostet dann auch mal 20 bis 30 Euro.
Ich hatte mal einen Gesellen, der dachte, er könne Leimflecken später einfach wegschleifen. Der hat zwei Tage geflucht und es sah trotzdem mies aus. Seitdem weiß jeder bei mir: Sauber arbeiten ist IMMER schneller als nachbessern! Bei diesem Projekt ist jeder Leimtropfen auf der Oberfläche eine Sünde, die du nie wieder loswirst.

Im Inneren: Das Fundament muss bombenfest sein
Unter der stacheligen Haut braucht es eine absolut stabile Basis. Die ganzen Stäbe plus Leim bringen ein irres Gewicht zusammen. Ein normaler Korpus aus massivem Holz wäre hier der pure Selbstmord. Massivholz „arbeitet“, es dehnt sich aus und zieht sich zusammen. Das würde die äußere Schicht unter enorme Spannung setzen und die Leimfugen reißen lassen.
Deshalb muss die Basis aus einem formstabilen Plattenwerkstoff bestehen. Multiplexplatten aus Birke wären eine exzellente Wahl – extrem stabil, verziehen sich kaum. Gut zu wissen: Hochwertige Multiplexplatten kosten schnell mal 80 bis 120 Euro pro Quadratmeter. Das ist das Skelett. Und wenn das Skelett nicht perfekt ist, bricht alles zusammen.
Die Mechanik: Wie funktionieren unsichtbare Türen?
Der Clou an der ganzen Sache: Der Schrank hat Schiebetüren. Aber wie sollen sich zwei Flächen, die mit langen Stacheln besetzt sind, aneinander vorbeibewegen? Das geht nicht. Die Stäbe würden kollidieren.
Die einzige logische Lösung sind sogenannte Einschubtüren oder „Pocket Doors“. Das funktioniert so: Du ziehst die Tür erst ein Stück nach vorne und schiebst sie dann seitlich in eine Tasche IM Korpus. Dafür braucht man spezielle Beschläge von namhaften Herstellern wie Hettich oder Blum. Allein ein Satz dieser Beschläge für EINE Tür kann, je nach Gewicht, locker zwischen 300 und 800 Euro kosten.

Und das Gewicht ist hier ein ernstes Thema. Eine Tür mit Tausenden von Holzstäben wiegt ein Vermögen. Ich schätze mal, das ganze Möbelstück bringt locker 300, vielleicht sogar 400 Kilo auf die Waage. Da müssen die besten Beschläge rein, die man für Geld kaufen kann.
Oberfläche: Streichen? Vergiss es!
Jeder, der mal einen Jägerzaun gestrichen hat, kennt den Schmerz. Und jetzt stell dir das bei 80.000 spitzen Stäben vor. Eine nachträgliche Behandlung der Oberfläche ist praktisch unmöglich. Du kannst das nicht schleifen, nicht gleichmäßig ölen, nichts. Der einzige professionelle Weg: Man behandelt alle Teile VOR dem Zusammenbau. Die Stäbe werden wahrscheinlich in einem Spritzverfahren mit Hartwachsöl oder einem matten Lack behandelt, die Korpusteile ebenso. Erst dann wird alles verleimt. Das ist Profi-Denke: Immer vom fertigen Ergebnis her planen.
Aber mal ehrlich: Würdest du das Ding zu Hause haben wollen?
Bei aller Faszination müssen wir auch mal Klartext reden. Und da gibt es zwei Punkte, die man nicht verschweigen darf.

Achtung, Verletzungsgefahr! Als Meister habe ich auch eine Verantwortung. Und ganz ehrlich: Dieser Schrank ist absolut nichts für einen Haushalt mit Kindern. Die spitzen Stäbe sind gefährlich. Ein Sturz dagegen kann übel enden. Das ist ein Kunstobjekt, das man aus der Ferne bewundert, kein Alltagsgegenstand. Im öffentlichen Raum bräuchte so ein Teil definitiv eine Risikobewertung und eine Absperrung.
Und der Staub? Wie putzt man das? Ein Staubwedel verhakt sich, ein Lappen ist nutzlos. Die einzige Chance ist vorsichtiges Ausblasen mit Druckluft oder Absaugen mit einer Bürstendüse, die die Stäbe nicht berührt. Du zahlst für diese einzigartige Optik also auch mit einem extrem hohen Pflegeaufwand.
Inspiriert? So holst du den Look im Kleinen nach Hause
Jetzt bist du vielleicht inspiriert, aber keine Sorge, du musst nicht gleich 80.000 Stäbe verarbeiten. Du kannst diesen Look auch im Kleinen umsetzen!
Wie wäre es mit einer Schmuckschatulle oder einer kleinen Wandverkleidung? Besorg dir im Baumarkt (z.B. bei Bauhaus oder online) einfach fertige Buchen-Rundstäbe, vielleicht 6 mm dick. Säge sie auf die gleiche Länge, nimm ein schönes Stück Holz als Basis, bohre deine Löcher und leime die Stäbe ein. So bekommst du ein Gefühl für die Technik und hast ein mega individuelles Deko-Objekt, ohne gleich einen Kredit aufnehmen zu müssen.

Was wir daraus mitnehmen
Warum reden wir überhaupt über so ein extremes Möbel? Weil es inspiriert. Es zeigt, was möglich ist, wenn man altes Wissen mit neuer Technik und einer mutigen Vision kombiniert. Und es lehrt uns vor allem eines: Ehrlichkeit.
Wenn ein Kunde mit einem Foto von so einem Schrank zu mir käme, wäre mein erster Job die Aufklärung. Ich würde über den irren Aufwand sprechen und die Kosten. Wir reden hier nicht über den Preis eines Schranks, sondern eher über den eines gut ausgestatteten Mittelklassewagens. Allein die CNC-Stunden, die man mieten muss, und die unzähligen Stunden Handarbeit katapultieren den Preis in einen Bereich, der für die meisten von uns jenseits von Gut und Böse ist – wir sprechen hier sicher von einem hohen fünf- oder sogar sechsstelligen Betrag.
Dieses stachelige Kunstwerk wird wohl ein Einzelstück bleiben. Aber es ist ein Denkmal für die Geduld und die Leidenschaft, die in unserem Beruf steckt. Es zeigt, dass Hände und ein kluger Kopf wahre Wunder erschaffen können. Und das ist eine Botschaft, die bleibt.


