Graphen aus Müll: Nur Labor-Hype oder bald in deinem Werkzeugkasten?

von Emma Wolf
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In meiner Werkstatt habe ich in über 30 Jahren schon so einiges kommen und gehen sehen. Neue Stähle, leichtere Alu-Legierungen, Kunststoffe, die plötzlich mehr aushalten als Metall. Mein alter Meister hat immer gesagt: „Junge, das Material ist die Seele deiner Arbeit. Versteh es, dann machst du auch nichts kaputt.“ Und ganz ehrlich, daran halte ich mich bis heute, wenn ich meine Lehrlinge anleite. Deshalb horche ich auf, wenn von einem neuen Werkstoff die Rede ist, der angeblich alles verändern soll. In letzter Zeit fällt immer wieder ein Name: Graphen.

Oft wird es als „Wundermaterial“ bezeichnet. Solche Worte mag ich nicht. Im Handwerk gibt es keine Wunder, nur gute Arbeit und das richtige Material. Aber die Berichte über ein neues Verfahren, mit dem man Graphen günstig und sogar aus Müll herstellen kann, haben mich dann doch neugierig gemacht. Nicht als Wissenschaftler, sondern als Praktiker. Was bedeutet das für uns in der Werkstatt? Ist das nur eine Spielerei aus dem Labor oder eine echte Chance für unsere Arbeit? Schauen wir uns das mal ganz nüchtern an.

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Graphen verstehen – Mehr als nur eine dünne Schicht Kohlenstoff

Bevor wir drüber reden, wie man das Zeug aus altem Plastik kocht, müssen wir kurz klären, was Graphen überhaupt ist. Die meisten haben gehört: Es ist eine einzelne Schicht aus Kohlenstoffatomen. Richtig, aber das allein sagt noch nicht viel aus. Stell dir eine perfekte Bienenwabe vor. Jede Ecke ist ein Kohlenstoffatom, und die Verbindungen dazwischen sind bombenfest. Diese perfekte, flache Struktur macht den ganzen Unterschied.

Wir kennen Kohlenstoff ja in vielen Formen:

  • Graphit: Wie in einem Bleistift. Das sind unzählige Graphen-Schichten, die nur lose übereinanderliegen. Deshalb ist Graphit weich und schmiert – man reibt die Schichten ganz einfach ab.
  • Diamant: Hier sind die Kohlenstoffatome in einem dreidimensionalen Gitter fest verankert. Das macht ihn zum härtesten natürlichen Material, das wir kennen.

Graphen ist also quasi die „Urmutter“ von Graphit. Eine einzige dieser Schichten, perfekt geordnet. Und diese Ordnung verleiht ihm seine unglaublichen Eigenschaften. Um das mal in einen Rahmen zu packen, den wir im Handwerk kennen:

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Die Festigkeit: Man liest oft, Graphen sei 100-mal fester als Stahl. Das ist natürlich ein Laborwert, aber er gibt eine Ahnung vom Potenzial. Ein normaler Baustahl, so ein S235JR, den wir täglich schweißen und biegen, hat eine Zugfestigkeit von rund 360 Megapascal (MPa). Theoretisch kommt Graphen auf über 100.000 MPa. Verrückt, oder? In der Praxis werden wir das so nie erleben, aber es zeigt: Schon winzige Mengen Graphen als Zusatz können andere Materialien brutal verstärken.

Das Gewicht: Das Zeug ist quasi nichts. Eine ein Quadratmeter große Schicht wiegt weniger als ein Milligramm. Für uns bedeutet das: Wenn wir es als Zusatzstoff nutzen, erhöhen wir das Gewicht eines Bauteils kaum, können aber seine Stabilität massiv verbessern. Denk mal an Fahrzeugbau, leichtere Gerüste oder einfach nur an tragbare Werkzeuge.

Die Leitfähigkeit: Es leitet Strom und Wärme besser als Kupfer. Das ist für die Elektroniker spannend, aber auch für uns. Stell dir mal heizbare Beschichtungen vor oder Bauteile, die Hitze extrem schnell ableiten müssen. Da eröffnen sich ganz neue Möglichkeiten, weit über eine simple Kupferschiene hinaus.

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Gut zu wissen, übrigens: Die Entdecker haben das Zeug anfangs mit einfachem Tesafilm von einem Graphitblock abgezogen. Manchmal sind die genialsten Dinge verblüffend einfach. Das Herstellen in großen Mengen war aber lange das genaue Gegenteil…

Vom teuren Labor zum „Müll-Blitz“ – Die Herstellung wird endlich praktisch

Früher war die Graphen-Herstellung ein Fall für Speziallabore mit sündhaft teuren Maschinen. Ein gängiges Verfahren war die chemische Gasphasenabscheidung. Klingt kompliziert, ist es auch. Das Ergebnis war zwar super reines Graphen, aber der Prozess war langsam, energiehungrig und unbezahlbar für den normalen Einsatz. Wir haben mal für ein kleines, beschichtetes Musterteil angefragt – der Preis war jenseits von Gut und Böse.

Das neue Verfahren, oft „Flash-Joule-Heating“ genannt, ist da ein ganz anderer Schnack. Direkter, brutaler und im Prinzip erstaunlich einfach. Man nimmt eine beliebige kohlenstoffhaltige Quelle – Kohlenstaub, Plastikmüll, alte Autoreifen, ja sogar Kaffeesatz. Dieses Material wird in eine Röhre gepackt und dann jagt man für den Bruchteil einer Sekunde einen extremen Stromstoß hindurch.

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Was da passiert? Pure Physik. Der gewaltige Strom erzeugt schlagartig eine Hitze von rund 2.700 Grad Celsius. Heißer als flüssiger Stahl. Bei der Temperatur verdampft alles, was kein Kohlenstoff ist. Die übrig gebliebenen Kohlenstoffatome haben keine Zeit, sich ordentlich zu sortieren, und finden sich stattdessen in der einfachsten Form zusammen: als kleine Graphen-Flocken.

Das Ergebnis ist kein perfektes High-End-Graphen, sondern sogenanntes „turbostratisches Graphen“. Also Stapel aus wenigen, leicht verdrehten Schichten. Für einen Computerchip vielleicht nicht ideal. Aber als Zusatzstoff für Beton, Kunststoffe oder Lacke? Perfekt! Und vor allem: Es ist plötzlich bezahlbar.

Die Vorstellung, aus unserem Werkstattabfall – Kunststoffresten, alten Verpackungen – einen Hochleistungs-Werkstoff zu machen, hat schon was. Das ist Kreislaufwirtschaft, wie sie sein sollte.

Wo sehen wir Graphen bald in der Werkstatt?

Ein neuer Werkstoff ist nur so gut wie sein praktischer Nutzen. Wo könnten wir dieses „Blitz-Graphen“ also wirklich einsetzen? Ich sehe da drei große Bereiche, die für viele von uns interessant sind.

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1. Beton und Mörtel, die mehr können

Beton ist der Baustoff Nummer eins, aber seine Herstellung ist eine Umweltsünde. Wenn wir Beton stabiler machen könnten, bräuchten wir weniger davon. Und genau hier kommt Graphen ins Spiel. Gib eine winzige Menge (oft unter 0,1 %) des Graphen-Pulvers in die Zementmischung, und es passiert Erstaunliches.

Die feinen Flocken wirken wie eine Bewehrung im Nanobereich und verhindern die Ausbreitung von Mikrorissen. Stell dir einen normalen Beton vor, sagen wir einen C25/30, der seine 30 Megapascal Druckfestigkeit packt. Mit einer Prise Graphen drin reden wir plötzlich von über 40 MPa. Das bedeutet, du könntest Fundamente oder Wände dünner gießen und sparst am Ende massiv Material und Gewicht. Klar, der Kubikmeter Spezialbeton kostet mehr, rechne mal mit 15-25 % Aufpreis. Aber wenn du dafür 20 % weniger Material brauchst und das Bauwerk länger hält, kann sich das unterm Strich schon wieder lohnen.

2. Kunststoffe und Verbundwerkstoffe auf Steroiden

Heute sind Kunststoffe nicht mehr wegzudenken. Ihre Schwäche ist oft die Festigkeit oder Hitzebeständigkeit. Mischen wir Graphen-Flocken bei, erhöhen wir die Steifigkeit, ohne schwere Glasfasern zu brauchen. Gleichzeitig wird der Kunststoff elektrisch leitfähig. Das ist Gold wert für Gehäuse, die empfindliche Elektronik schützen müssen, oder für Bauteile im Auto, die elektrostatisch lackiert werden sollen. Es gibt sogar schon erste 3D-Druck-Filamente mit Graphen-Anteil, die extrem stabile und leitfähige Prototypen ermöglichen. Das ist für jeden Tüftler und Entwickler eine spannende Sache.

3. Beschichtungen und Farben, die ewig halten

Rost ist unser ewiger Feind. Eine Farbe mit Graphen-Zusatz bildet eine extrem dichte Barriere, durch die Wasser und Sauerstoff kaum noch durchkommen. Der Korrosionsschutz wird also deutlich besser. Ich sehe hier auch riesiges Potenzial für die Schreinerkollegen: Stellt euch mal einen Holzlack für Treppen oder Böden vor, der durch Graphen extrem abriebfest wird. Solche Speziallacke sind schon auf dem Markt, meist bei Fachhändlern für Industrie- oder Schutzbeschichtungen. Die kosten dann pro Liter schnell mal 30-50 € mehr als ein guter 2K-Lack, aber die Haltbarkeit könnte den Preis rechtfertigen.

Achtung: Nüchtern bleiben ist Pflicht

Als Meister trage ich Verantwortung. Deshalb müssen wir auch über die Risiken reden.

Die Gesundheit: Graphen-Pulver besteht aus Nanopartikeln. Und wie bei jedem feinen Staub gilt: Das Zeug gehört nicht in die Lunge! Eine FFP3-Maske und eine gute Absaugung sind absolute Pflicht, wenn man mit dem Pulver hantiert. Sobald das Graphen aber fest in Beton oder Lack eingebunden ist, geht davon keine Gefahr mehr aus.

Die Verarbeitung: Und hier kommt der Haken, den ich selbst schon erlebt habe. Ich dachte mal, ich wäre schlau und mische mir so ein neuartiges Verstärkungspulver in Epoxidharz für eine Reparatur. Das Ergebnis war eine graue, klumpige Pampe, die schlechter hielt als vorher. Das Zeug gleichmäßig zu verteilen, ist eine echte Kunst. Man kann es nicht einfach reinschütten. Hier müssen wir uns auf die Hersteller verlassen, die uns fertige Mischungen oder Granulate liefern, die wir sicher verarbeiten können.

Die Qualität: Woher weiß ich, was da wirklich drin ist? Das kann ich in der Werkstatt nicht prüfen. Wir sind auf Zertifikate und Datenblätter angewiesen. Hier braucht es in Zukunft klare Normen, damit wir wissen, was wir kaufen.

Mein Fazit als alter Hase

Wird Graphen jetzt alles verändern? Ja und nein. Es wird nicht Stahl oder Holz ersetzen. Aber es wird diese Materialien besser machen. Ich sehe Graphen als einen extrem leistungsfähigen „Verbesserer“.

Die wahre Revolution ist für mich die Herstellung aus Abfall. Wenn wir aus einem Kostenfaktor – unserem Müll – einen Rohstoff machen, der unsere Produkte langlebiger und leichter macht, dann ist das ein echter Fortschritt.

Es wird sicher noch ein paar Jahre dauern, bis wir Graphen-Beton als Sackware bei Hornbach oder Bauhaus kaufen. Aber der Weg ist bereitet. Es ist unsere Aufgabe, die Augen offenzuhalten, die Dinge kritisch zu prüfen und sie dann, wenn sie sich bewähren, mit Sachverstand einzusetzen.

Und jetzt bin ich neugierig: Was meint ihr dazu? Hat schon mal jemand von euch ein Produkt mit Graphen in der Hand gehabt oder damit gearbeitet? Schreibt eure Erfahrungen mal in die Kommentare!

Emma Wolf

Ich liebe es, unseren Lesern und Leserinnen praktische und einzigartige Informationen, Tipps und Life Hacks über allmögliche Themen zu geben, die sie in ihrem Alltag auch tatsächlich anwenden können. Ich bin immer auf der Suche nach etwas Neuem – neuen Trends, neuen Techniken, Projekten und Technologien.