Deine erste Gewandung: Der ehrliche Werkstatt-Guide für Einsteiger

von Adele Voß
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In all den Jahren, die ich nun schon in meiner Werkstatt stehe, habe ich so ziemlich alles gesehen. Ritter in Turnschuhen, Burgfräulein in glänzendem Polyester. Aber das, was mich wirklich antreibt, sind die Momente, in denen das richtige Gewand einen Menschen verwandelt. Wenn aus einem ganz normalen Typen plötzlich ein stolzer Handwerker wird, der direkt aus der Vergangenheit zu kommen scheint. Das ist pure Magie! Es geht eben nicht nur um ein Kostüm für einen Tag, sondern darum, Geschichte anzufassen und für einen Moment lebendig zu machen.

Viele, die zum ersten Mal zu mir kommen, sind total unsicher. Eine Einladung zum Mittelaltermarkt, eine Themenhochzeit… und schon steht man vor diesem riesigen, verwirrenden Berg an Kleidung im Internet. Billigkram neben sündhaft teuren, handgenähten Stücken. Mein Ziel ist es, da mal ein bisschen Licht ins Dunkel zu bringen. Sieh diesen Guide einfach als ein Gespräch bei mir in der Werkstatt. Ich zeig dir, worauf es wirklich ankommt, wir quatschen über Stoffe und Schnitte und ich verrate dir auch ganz ehrlich, wo du sparen kannst – und wo du es lieber lassen solltest.

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Schritt 1: Vergiss das „Kostüm“, denk in „Darstellung“

Das ist der wichtigste Punkt überhaupt, ehrlich. Das Wort „Kostüm“ schubst uns gedanklich sofort in die Faschingsecke. Nennen wir es lieber „Darstellung“, das hilft, die Sache von Anfang an richtig anzugehen. Eine Darstellung hat nämlich eine Geschichte, eine innere Logik. Frag dich also als Erstes:

  • Wer will ich sein? Ein einfacher Bauer, eine Magd, ein Handwerker, ein wohlhabender Händler oder vielleicht sogar adlig? Dein sozialer Stand bestimmt einfach alles: die Materialien, die Farben, die Anzahl der Kleidungsschichten. Ein Bauer trug nun mal keine teuer gefärbte Wolle, und eine adlige Dame lief nicht im groben Leinenkittel herum.
  • Wann will ich leben? Das Mittelalter ist eine verdammt lange Zeit. Kleidung aus der Frühzeit sah komplett anders aus als die aus dem Spätmittelalter. Für den Anfang reicht eine grobe Einteilung: Das Hochmittelalter war eher von weiten, fließenden Tuniken geprägt. Im Spätmittelalter wurde es dann deutlich körperbetonter und figurnäher. Such dir einfach eine Epoche aus, die dir optisch zusagt.
  • Wo komme ich her? Ein Wikinger aus dem kühlen Norden trug natürlich andere Sachen als ein Kaufmann aus dem warmen Venedig. Konzentrier dich am besten auf eine Region. Das macht die Recherche viel einfacher und das Ergebnis am Ende um Längen stimmiger.

Diese drei Fragen sind dein Fundament. Alles andere baut darauf auf. Eine einfache, aber stimmige Darstellung ist immer tausendmal überzeugender als ein teuer zusammengewürfeltes Chaos.

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Das Herzstück deiner Gewandung: Die richtigen Materialien

Nichts entlarvt ein Outfit schneller als der falsche Stoff. Moderne Kunstfasern wie Polyester oder Polyacryl haben in einer historischen Darstellung absolut nichts verloren. Sie sehen nicht nur falsch aus, sie fühlen sich auch furchtbar an. Und, ganz wichtig: Sie können brandgefährlich sein.

Die unschlagbare Basis: Wolle und Leinen

Wolle: Das ist dein Stoff für alles, was drüber kommt – Tuniken, Kleider, Mäntel, Hosen. Wolle ist ein echtes Wundermaterial. Sie isoliert super, selbst wenn sie mal feucht wird. Sie ist von Natur aus schmutzabweisend und schwer entflammbar. Fliegt dir am Lagerfeuer ein Funke auf den Wollmantel, kokelt er nur ein kleines Loch rein. Polyester würde schmelzen und sich schmerzhaft in die Haut brennen. Das ist kein Witz, das ist ein Sicherheitshinweis, den ich jedem mit auf den Weg gebe!

Kleiner Tipp beim Stoffkauf: Such online nach Begriffen wie „Wollköper“ oder „Wollstoff in Tuchbindung“. Ein Gewicht von ca. 300g/lfm ist ein super Allrounder für den Anfang. Rechne hier mit Preisen zwischen 15€ und 30€ pro Meter für eine anständige Qualität.

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Leinen: Das ist der Stoff für alles, was direkt auf der Haut liegt. Also Unterhemd, Unterkleid, einfache Hauben. Leinen ist extrem robust und saugfähig. Es nimmt den Schweiß auf und hält ihn von deiner teureren Wollkleidung fern. So musst du nur das Leinenhemd waschen, nicht die ganze Tunika. Im Sommer ist ein reines Leinenhemd sowieso unschlagbar, weil es kühlt und schnell trocknet. Finger weg von Baumwolle für die unterste Schicht! Die saugt sich voll, trocknet ewig und kann im Winter sogar zu Unterkühlung führen.

Übrigens, wie wäscht man das Zeug? Ganz einfach: Leinen kannst du normal in die Waschmaschine packen, das wird mit jeder Wäsche weicher. Wolle hingegen braucht kaum Wäsche. Meistens reicht es, sie gut auszulüften. Wenn’s doch mal sein muss: Kalt von Hand waschen, nicht wringen und liegend trocknen lassen.

Farben: Ein klares Zeichen für Status

Das Mittelalter war alles andere als nur braun und grau. Aber knallige Farben waren ein echtes Statussymbol, weil die Herstellung mit Pflanzenfarben super aufwendig war.

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  • Einfache Leute: Ungefärbte Stoffe in Wollweiß, Grau oder Braun waren am billigsten. Simple Färbungen mit heimischen Pflanzen ergaben gedämpfte Gelb-, Grün- oder Brauntöne.
  • Reichere Leute: Kräftige Farben kosteten richtig Geld. Ein sattes Rot oder ein leuchtendes Blau waren ein klares Zeichen für Wohlstand. Purpur war so unbezahlbar, dass es nur den allerhöchsten Herrschern vorbehalten war.

Für den Anfang fährst du mit einem ungefärbten Leinen-Untergewand und einer Obertunika aus einem pflanzengefärbten Wollstoff (z.B. in einem schönen Ocker, Grün oder Ziegelrot) goldrichtig. Das ist eine absolut solide und authentische Basis.

Der Aufbau: Schicht für Schicht zum perfekten Look

Eine gute Gewandung funktioniert nach dem Zwiebelprinzip. Das ist nicht nur historisch korrekt, sondern auch super praktisch, um sich an jede Temperatur anzupassen. Denk immer von innen nach außen.

1. Die Grundlage (aus Leinen): Das ist die wichtigste Schicht! Für Männer ein knielanges Hemd und eine weite Unterhose (die „Bruche“). Für Frauen ein bodenlanges Unterkleid. Bitte, bitte trag niemals moderne Unterwäsche drunter. Sie zerstört die Silhouette und fühlt sich unter den Naturstoffen furchtbar an.

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2. Die Hauptschicht (aus Wolle): Hier zeigst du, wer du bist. Für Männer eine Tunika oder ein Wams, dazu Beinlinge (quasi einzelne Hosenbeine). Für Frauen ein Wollkleid, das über dem Leinen-Unterkleid getragen wird. Ein einfacher T-Schnitt mit eingesetzten Keilen (sogenannten Geren) ist ein super Ausgangspunkt und war weit verbreitet.

3. Der Wetterschutz (aus dicker Wolle): Ein einfacher Rechteck- oder Halbkreismantel, mit einer Fibel (einer Art Brosche) an der Schulter geschlossen, hält dich warm und trocken. Und ganz wichtig: die Kopfbedeckung! Eine simple Leinenhaube für den Mann oder ein Kopftuch für die Frau machen eine Darstellung sofort komplett und schützen vor Sonne und Kälte.

Das Anfänger-Starter-Set: Was kostet der Spaß wirklich?

Okay, Butter bei die Fische. Was musst du für eine solide Grundausstattung einplanen? Lass uns mal ein Paket für einen einfachen Handwerker oder eine Magd schnüren. Das sind realistische Preise von Händlern, die sich auf Reenactment-Bedarf spezialisiert haben:

  • Leinen-Untergewand (Hemd/Kleid): ca. 40€ – 70€
  • Woll-Obergewand (Tunika/Kleid): ca. 80€ – 150€
  • Beinkleidung (Bruche & Beinlinge): ca. 60€ – 100€ (fällt für Frauen oft weg)
  • Einfacher Ledergürtel: ca. 20€ – 30€
  • Gute Einsteiger-Schuhe (Leder): ca. 80€ – 120€

Rechnen wir mal zusammen: Für eine vernünftige, komplette Erstausstattung solltest du also ein Budget von etwa 280€ bis 470€ einplanen. Das ist eine Investition, ja. Aber dafür hast du Teile, die Jahre halten und sich einfach richtig anfühlen.

Die Details, die den Unterschied machen

Ein tolles Gewand kann durch die falschen Kleinigkeiten komplett ruiniert werden. Hier trennt sich die Spreu vom Weizen.

Der Gürtel: Vergiss die breiten Fantasy-Gürtel mit riesigen Schnallen. Ein typischer Gürtel war ein schmaler, oft nur 2-3 cm breiter Lederriemen, an dem man seine Gürteltasche und ein Messer befestigte.

Wenig bekannter Trick: Der schnellste Weg, deine Darstellung aufzuwerten? Tausch deinen breiten Nietengürtel gegen einen schlichten, schmalen Lederriemen aus. Den bekommst du oft schon für 20€ auf Märkten oder online und der Effekt ist gigantisch!

Die Schuhe: Ich weiß, es tut weh, aber moderne Schuhe sind der absolute Killer für jede Darstellung. Turnschuhe oder Wanderstiefel gehen gar nicht. Investiere in einfache, wendegenähte Lederschuhe. Sie sind die Basis für alles. Wenn das Budget am Anfang super knapp ist, sind schlichte, dunkle Lederschuhe ohne sichtbares Profil, die unter einem langen Gewand verschwinden, ein Notkompromiss.

Selbermachen oder Kaufen?

Wenn du mit Nadel und Faden umgehen kannst, ist Selbermachen der beste Weg. Du hast die volle Kontrolle und es ist günstiger.

Dein erstes Nähprojekt: Ein einfaches Leinenhemd. Du brauchst dafür ca. 2,5 Meter Leinenstoff (bekommst du schon für rund 30-40€), passendes Garn und eine Schere. Als absoluter Anfänger solltest du dafür etwa 8-10 Stunden einplanen. Einfache T-Schnittmuster findest du massenhaft und oft kostenlos im Internet. Das Erfolgserlebnis ist riesig!

Beim Kaufen gilt: Meide die großen Karneval-Shops. Deren Polyester-Zeug ist für eine Party gemacht, nicht für einen ganzen Tag draußen. Suche stattdessen nach Online-Shops für „Reenactment-Bedarf“ oder „LARP“. Dort findest du oft solide Einsteiger-Sachen von der Stange.

Ein letztes Wort zur Sicherheit

Auf Märkten gibt es offene Feuer und viele Menschen. Pass auf dich auf!

  • Brandschutz: Nochmal, weil’s so wichtig ist: Wolle statt Kunstfaser! Und pass mit weiten Ärmeln in der Nähe von Kerzen auf.
  • Stolpergefahr: Bodenlange Kleider sind toll, aber man tritt leicht drauf. Übe das Gehen darin und raffe den Rock beim Treppensteigen.
  • Wetter: Im Sommer schützen Kopfbedeckung und dein Leinenhemd vor Hitzschlag. Im Winter ist das Zwiebelprinzip mit Leinen, Wolle und einem dicken Wollmantel dein bester Freund gegen die Kälte.

Ganz ehrlich? Deine erste Gewandung wird wahrscheinlich nicht perfekt sein. Meine war es auch nicht. Aber sie ist dein Startpunkt. Eine Eintrittskarte in eine unglaublich faszinierende Welt. Und wenn du dann das erste Mal auf einem Markt stehst, den Geruch von Holzrauch in der Nase hast und den echten Wollstoff auf deiner Haut spürst, dann weißt du: Jeder einzelne Stich und jeder Cent hat sich gelohnt.

Adele Voß

Adele Voß ist 1979 in Wien geboren und hat dort Kunstgeschichte studiert. Deshalb sind ihre Interessen als Online-Autorin auf die Bereiche Kunst und Kultur gerichtet.  Ihrer Meinung nach muss man Mode und Design ebenso als Quellen kreativer Inspiration betrachtet und als Ausdruck der menschlichen Persönlichkeit. Adele macht ihre Leser gerne aufmerksam auf die tiefere Bedeutung der Trends im Innendesign im Konkreten und auch in der modernen Lebensweise im Allgemeinen. Adele Voß schreibt darüber hinaus gerne übers Thema Gesundheit. Es umfasst Artikel über gesundes Abnehmen, gesunde Speisen und Getränke und auch über sportliche Aktivitäten in jedem Alter. In ihrer Freizeit kocht sie gern für die Familie und sie alle reisen oft zusammen.