Mehr als nur ‚hässliche‘ Kunst: Wie du den Expressionismus wirklich verstehst (und lieben lernst)

von Augustine Schneider
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Ganz ehrlich? Ich habe in meinem Leben unzählige Kunstwerke in den Händen gehalten. Manche waren uralt, andere brandneu. Aber nur wenige Stile packen einen so unmittelbar bei der Gurgel wie der deutsche Expressionismus. Viele Leute stehen davor und murmeln: „Das ist doch hässlich“ oder, der Klassiker, „Das hätte mein Kind auch malen können.“ Und ich verstehe das, wirklich!

Doch wenn man gelernt hat, genauer hinzusehen – und das ist mein Job –, erkennt man etwas völlig anderes. Man spürt die Unruhe, die Verzweiflung, aber auch die unbändige, rohe Energie einer ganzen Epoche.

Wenn ich in meiner Werkstatt ein solches Bild für eine Ausstellung vorbereite oder ein beschädigtes Stück restauriere, sehe ich mehr als nur Farbe auf Leinwand. Ich sehe die wilden Spuren des Pinsels, die Wut oder die Eile des Künstlers. Ich rieche förmlich noch das alte Leinöl und das Terpentin. Diese Kunst wurde nicht geschaffen, um zu gefallen. Sie ist ein Schrei, der auf die Leinwand geschleudert wurde. Und um sie zu verstehen, müssen wir uns die Hände schmutzig machen und genau hinschauen.

expressionismus edvard munch sonne
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Die Wurzeln des Aufruhrs: Warum diese Kunst entstehen musste

Stell dir eine Zeit vor, in der alles explodiert. Die Städte wachsen in einem irren Tempo, Fabriken schießen aus dem Boden, die ersten Automobile knattern über das Kopfsteinpflaster. Alles wird lauter, schneller, anonymer. Unter dieser glänzenden Oberfläche der Moderne brodelte es aber gewaltig. Die Menschen fühlten sich von dieser neuen Welt überrollt, verloren den Anschluss an die Natur, an die Gemeinschaft und oft genug auch an sich selbst. Dieses Gefühl der Entfremdung, dieser innere Riss, ist der Nährboden des Expressionismus.

Die Kunst davor wollte oft einfach nur den schönen Moment festhalten. Ein malerischer Sonnenuntergang, eine Dame im Park – hübsch, aber oft oberflächlich. Die Expressionisten wollten das genaue Gegenteil. Sie kehrten ihr Innerstes nach außen. Ihre Gefühle, Ängste und Träume sollten sichtbar werden, ganz egal, wie die Realität aussah. Ein Baum musste also nicht grün sein, wenn der Künstler ihn als Symbol für Trauer empfand. Dann malte er ihn eben blau oder schwarz. Die Form folgte dem Gefühl, nicht der Natur. Das war ein radikaler Bruch mit allem, was die etablierten Kunstakademien lehrten.

expressionismus Edvard Munch der Schrei
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Zwei Wege, ein Ziel: Roh und direkt gegen spirituell und poetisch

Der deutsche Expressionismus ist keine einheitliche Bewegung. Man kann grob zwei große Gruppen unterscheiden, die ganz unterschiedliche Wege gingen. Ich habe Werke von beiden restauriert und glaub mir, die Unterschiede spürt man nicht nur im Stil, sondern auch im Material.

Kurz und knackig: Die zwei großen Strömungen

Um es ganz einfach zu machen, hier ein kleiner Spickzettel für den nächsten Museumsbesuch:

  • Die eine Gruppe, die man oft als „Die Brücke“ bezeichnet: Diese Künstler waren oft in den Großstädten unterwegs. Ihre Kunst ist roh, schnell, kantig und manchmal richtig aggressiv. Sie nutzten den Holzschnitt wie eine Waffe, um ihre Botschaft direkt und ohne Schnörkel rauszuhauen. Ihre Themen? Die Hektik und Anonymität der Großstadt, die Sehnsucht nach einem einfachen Leben in der Natur.
  • Die andere Gruppe, bekannt als „Der Blaue Reiter“: Diese Künstler waren auf der Suche nach dem Spirituellen. Ihre Kunst ist oft lyrischer, fast musikalisch und unglaublich farbenfroh. Für sie hatten Farben eine seelische Wirkung, fast wie Töne. Hier ging es weniger um den Schrei, sondern mehr um die innere Harmonie und die Sehnsucht nach einer geistigen Welt.

Die Künstler der ersten Gruppe malten oft schnell und impulsiv, die Farbe dick aufgetragen, manchmal direkt aus der Tube. Es ging um Spontaneität, nicht um Perfektion. Die zweite Gruppe arbeitete oft sorgfältiger. Ihre Leinwände waren besser grundiert, die Farbkompositionen durchdachter. Sie wollten eine Harmonie erzeugen, die die Seele des Betrachters direkt anspricht.

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Dein 5-Minuten-Guide: Wie du ein expressionistisches Bild wirklich „liest“

Okay, du stehst also im Museum und willst mehr sehen als nur „komische Farben“. Probier mal das hier aus:

  1. Geh auf Abstand (Die ersten 30 Sekunden): Was ist der allererste Eindruck? Welche Farbe springt dich an? Ist das Bild hektisch oder ruhig? Laut oder leise? Versuch, ein einziges Gefühlswort zu finden, das passt.
  2. Geh ganz nah ran (Die nächsten 2 Minuten): Jetzt vergiss das Motiv. Schau dir die Oberfläche an. Siehst du die dicken Farbschichten, die man „pastos“ nennt? Erkennst du die Borsten des Pinsels? Wurde die Farbe gekratzt oder gespachtelt? Du schaust dir gerade die pure Energie des Malprozesses an!
  3. Geh wieder auf Abstand (Die restliche Zeit): Verbinde jetzt beides. Wie erzeugen diese groben Pinselstriche (die du aus der Nähe gesehen hast) das Gefühl von Angst oder Freude (das du aus der Ferne gespürt hast)? Plötzlich siehst du nicht mehr nur ein Bild, sondern eine emotionale Landkarte.
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Das Handwerk hinter dem Gefühl: Leinwand, Pappe und giftige Farben

Als jemand, der diese Werke auseinandernimmt und wieder zusammensetzt, achte ich auf Dinge, die dem normalen Betrachter entgehen. Die Materialwahl war oft von Not, aber auch von Absicht geprägt.

Viele Künstler waren arm. Sie malten auf allem, was sie finden konnten: grobe Jute, billige Pappe, manchmal sogar Zeitungspapier. Das macht die Restaurierung heute zu einer riesigen Herausforderung. Pappe wird mit der Zeit brüchig, grobe Leinwand verzieht sich. Manchmal müssen wir ein ganzes Werk auf eine neue Trägerleinwand aufziehen – ein Prozess, der äußerste Präzision erfordert. Da arbeitest du mit speziellen Klebstoffen, etwa einem Gemisch aus Bienenwachs und Dammarharz, und kontrollierst die Temperatur mit einem Heizspatel. Ein falscher Handgriff kann alles zerstören.

Ach ja, und die Farben! Damals kamen viele neue, leuchtende Pigmente aus der chemischen Industrie auf den Markt: Cadmiumgelb, Kobaltblau, Viridiangrün. Die Expressionisten liebten sie! Aber einige dieser frühen Farben waren nicht lichtecht. Ein strahlendes Rot von damals kann heute ein fahles Rosa sein.

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Gut zu wissen: Die Gift-Warnung aus der Praxis

Einige dieser alten Pigmente sind hochgiftig. Bleiweiß, arsenhaltige Grüntöne oder Cadmiumfarben. Aber keine Panik! Solange ein Bild intakt und unbeschädigt an der Wand in Omas Wohnzimmer hängt, passiert absolut nichts. Gefährlich wird es nur, wenn Farbteilchen abplatzen und eingeatmet werden könnten – und genau deshalb gilt die goldene Regel: Finger weg von der Selbstreparatur und immer den Profi rufen!

Ein dunkles Kapitel: Der Angriff auf die Moderne

Man kann nicht über diese Kunstrichtung sprechen, ohne ihre dunkelste Zeit zu erwähnen. Mit der Machtübernahme eines totalitären Regimes in Deutschland endete die Blütezeit abrupt. Die Machthaber verachteten den Expressionismus, für sie war er „undeutsch“, „krank“ und ein Zeichen des Verfalls.

Zehntausende moderne Kunstwerke wurden aus den Museen beschlagnahmt. In berüchtigten Propaganda-Ausstellungen wurden sie gezielt verspottet, schief an die Wände gehängt und mit verhöhnenden Parolen versehen, um sie in den Augen der Bevölkerung zu vernichten. Für die Künstler war das eine Katastrophe. Viele zerbrachen daran, andere erhielten Malverbote und arbeiteten heimlich im Verborgenen weiter, oft auf kleinen Papierfetzen. Wieder andere mussten ins Exil fliehen.

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Ein großer Teil der beschlagnahmten Werke wurde ins Ausland verkauft, ein anderer Teil in einem unvorstellbaren Akt der Barbarei einfach verbrannt. Diese Geschichte ist für meine Arbeit heute noch relevant. Ich erinnere mich an ein Werk, das ich mal auf dem Tisch hatte. Es hatte Lücken in seiner Geschichte, die genau in diese dunkle Zeit fielen. Man spürt da eine ganz andere Verantwortung, nicht nur gegenüber der Kunst, sondern auch gegenüber den Familien, die damals alles verloren haben.

Der Flohmarktfund: Worauf du achten solltest

Wie erkennt man nun ein echtes expressionistisches Werk? Und was macht man damit? Das ist die Millionen-Euro-Frage!

Checkliste für den Dachboden-Schatz:

  • Die Herkunft (Provenienz): Woher kommt das Bild? Gibt es irgendwelche Belege, alte Zettel auf der Rückseite, Ausstellungskataloge oder Rechnungen? Das ist das A und O.
  • Material & Alter: Fühlt sich die Leinwand alt an? Riecht es alt? Aber Vorsicht, das allein sagt nichts aus. Berühmte Fälscher wurden oft nur durch eine Materialanalyse überführt, weil sie zum Beispiel ein Pigment wie Titanweiß benutzt haben, das es zur Entstehungszeit des angeblichen Bildes noch gar nicht gab.
  • Der Stil: Passt der Pinselstrich, die Signatur (falls vorhanden) zu dem, was man von der Epoche kennt? Das ist reine Expertensache.

Mein eindringlicher Rat: Wenn du bei Punkt 1 schon unsicher bist, geh zu einem vereidigten Sachverständigen oder einem renommierten Auktionshaus. Eine erste mündliche Einschätzung kann je nach Aufwand zwischen 80 € und 200 € kosten, ein umfassendes schriftliches Gutachten ist natürlich teurer. Und BITTE: Versuche niemals, es selbst zu „reinigen“! Ich habe schon Bilder gesehen, die mit Spülmittel oder Kartoffelschalen für immer ruiniert wurden.

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Wo anfangen? Dein Weg zum Expressionismus (auch für den kleinen Geldbeutel)

Du hast jetzt richtig Lust bekommen? Super! Hier sind meine persönlichen Tipps:

Meine Top 3 Museen für Expressionismus in Deutschland:

  • Brücke-Museum in Berlin: Der Name sagt alles. Hier tauchst du voll in die Welt der rohen, kantigen Stadt-Expressionisten ein. Ein Muss!
  • Lenbachhaus in München: Das Zuhause des „Blauen Reiters“. Hier findest du die spirituellen, farbenprächtigen und fast schon musikalischen Werke.
  • Buchheim Museum am Starnberger See: Allein die Lage ist ein Traum. Das Museum beherbergt eine fantastische Sammlung, die einen tollen Überblick über die ganze Bewegung gibt.

Kein Budget für einen echten Schatz? Kein Problem! Die meisten von uns können sich kein Original leisten. Aber hochwertige, lizensierte Drucke aus den Museumsshops sind eine fantastische und erschwingliche Alternative. Und ein kleiner Geheimtipp: Manchmal sind originale Holzschnitte oder Zeichnungen auf Auktionen überraschend bezahlbar und ein toller Einstieg für Sammler.

Und wenn du den Expressionismus nicht nur sehen, sondern fühlen willst: Schau dir den Film „Das Cabinet des Dr. Caligari“ an. Mit seinen gemalten, verzerrten Kulissen ist er quasi ein Albtraum auf Zelluloid und fängt die Stimmung perfekt ein. Den findest du oft sogar auf YouTube!

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Ein letztes Wort aus der Werkstatt

Der Expressionismus ist keine bequeme Kunst. Er fordert uns heraus. Er ist laut, manchmal schrill und oft schmerzhaft. Aber er ist vor allem eines: verdammt ehrlich. Er zeigt uns eine Welt am Rande des Abgrunds und dokumentiert die Ängste und Hoffnungen einer Generation, die mit Umbrüchen konfrontiert war, die uns heute wieder sehr bekannt vorkommen.

Wenn du das nächste Mal vor einem dieser Bilder stehst, versuch, hinter die „hässlichen“ Farben und die „falschen“ Formen zu blicken. Suche nach dem Gefühl. Dann wirst du merken: Diese schon klassisch gewordene Kunst spricht noch immer direkt zu uns.

Bildergalerie

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„Ein Maler malt die Erscheinung der Dinge, nicht ihre objektive Richtigkeit, ja er schafft neue Erscheinungen der Dinge.“

Dieses Zitat von Ernst Ludwig Kirchner, einem der führenden Köpfe der Künstlergruppe „Die Brücke“, bringt den radikalen Bruch auf den Punkt. Es ging nicht mehr darum, die Welt abzubilden, sondern eine neue, gefühlte Welt auf der Leinwand zu erschaffen.

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Womit haben die Expressionisten ihre Wut eigentlich auf die Leinwand gebracht?

Weit entfernt von feinsten, glatten Leinwänden griffen Künstler wie Kirchner oft zu grobem Material wie Jute oder Sackleinen. Die raue Textur verhinderte glatte, akademische Pinselstriche und zwang zu einem direkteren Farbauftrag. Die Ölfarben selbst, etwa von traditionellen Herstellern wie Schmincke, wurden nicht zart vermalt, sondern oft dick und pastos aufgetragen und mit Spachteln oder den bloßen Fingern verteilt. Das Ziel war nicht Perfektion, sondern eine physische Präsenz, die man dem Werk noch heute ansieht.

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Ein häufiger Fehler: Den Expressionismus als einen einzigen Stil zu betrachten. Um die Vielfalt zu verstehen, sollte man zumindest die zwei wichtigsten deutschen Künstlergruppen kennen:

  • Die Brücke (Dresden): Rau, urban und direkt. Künstler wie Kirchner oder Heckel fingen mit kantigen, holzschnittartigen Figuren das nervöse Leben der Großstadt ein.
  • Der Blaue Reiter (München): Spirituell und poetisch. Künstler wie Franz Marc oder Wassily Kandinsky suchten in der Farbe und in Tiermotiven einen Weg zum Geistigen, was oft an der Schwelle zur Abstraktion stand.
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Klassischer Expressionismus (ca. 1905-1920): Die Kunst ist ein direkter, oft angstvoller Schrei als Reaktion auf die als bedrohlich empfundene Industrialisierung und die Entfremdung in der Großstadt. Die Motive sind oft kantig, die Farben dissonant, um innere Zerrissenheit zu zeigen.

Neo-Expressionismus (ca. 1980): Fast 70 Jahre später griffen die „Neuen Wilden“ wie Georg Baselitz diese rohe Geste wieder auf. Ihre Motivation war jedoch eine Rebellion gegen die kühle, intellektuelle Konzeptkunst der 70er. Ihre Kunst ist lauter, oft ironischer und riesenformatig – eine bewusste Rückkehr zur figurativen Malerei.

Ihr Auge schulen – worauf Sie achten sollten:

  • Der Pinselstrich: Ist er grob, hektisch oder fast gewalttätig? Die Expressionisten trugen Farbe oft dick auf (Impasto), um Emotionen direkt in die Textur zu meißeln.
  • Die Farbe: Vergessen Sie die Realität. Ein gelber Himmel, ein blaues Pferd? Farben dienten nicht der Abbildung, sondern dem Ausdruck von Gefühlen wie Freude, Angst oder Melancholie.
  • Die Form: Suchen Sie nach Verzerrungen. Gesichter werden zu Masken, Körper sind unnatürlich gelängt oder verdreht. Diese Abweichung von der Norm spiegelt das innere Chaos wider.
Augustine Schneider

Augustine ist eine offene und wissenshungrige Person, die ständig nach neuen Herausforderungen sucht. Sie hat ihren ersten Studienabschluss in Journalistik an der Uni Berlin erfolgreich absolviert. Ihr Interesse und Leidenschaft für digitale Medien und Kommunikation haben sie motiviert und sie hat ihr Masterstudium im Bereich Media, Interkulturelle Kommunikation und Journalistik wieder an der Freien Universität Berlin abgeschlossen. Ihre Praktika in London und Brighton haben ihren beruflichen Werdegang sowie ihre Weltanschauung noch mehr bereichert und erweitert. Die nachfolgenden Jahre hat sie sich dem kreativen Schreiben als freiberufliche Online-Autorin sowie der Arbeit als PR-Referentin gewidmet. Zum Glück hat sie den Weg zu unserer Freshideen-Redation gefunden und ist zurzeit ein wertvolles Mitglied in unserem motivierten Team. Ihre Freizeit verbringt sie gerne auf Reisen oder beim Wandern in den Bergen. Ihre kreative Seele schöpft dadurch immer wieder neue Inspiration und findet die nötige Portion innerer Ruhe und Freiheit.