Pilze auf der Baustelle? Mein ehrlicher Werkstatt-Bericht zu Myzel als Baustoff
In meiner Werkstatt riecht es eigentlich immer nach Holz. Nach Fichte, Eiche oder Zirbe. Diesen Geruch kenne ich, seit ich meine Lehre begonnen habe. Es ist der Duft von etwas Beständigem, von etwas, das über Jahrzehnte gewachsen ist und von uns Handwerkern eine neue Form bekommt. Aber seit einiger Zeit mischt sich ein ganz anderer Duft darunter. Ein erdiger, tiefer Geruch, fast wie im Wald nach einem Regenschauer. Und er kommt aus einer Kiste in der Ecke, in der ich mit einem Material experimentiere, das für viele noch wie pure Science-Fiction klingt: Myzel.
Inhaltsverzeichnis
- 1 Was ist dieses Myzel eigentlich? Kurz erklärt für Praktiker
- 2 Vom Sporen zum Bau-Block: Wie das Ganze wächst
- 3 Dein erstes Experiment: Ein Myzel-Block aus dem Eimer
- 4 Der Realitäts-Check: Was kann der Pilz im Vergleich?
- 5 Bearbeitung und Kosten – Die Fragen aus der Praxis
- 6 Die Hürden für die Baustelle: Zertifizierung und Bürokratie
- 7 Sicherheit geht vor: Was du beim Umgang beachten musst
- 8 Fazit aus meiner Werkstatt: Ein Material mit Zukunft
Klar, man liest die Schlagzeilen über Häuser aus Pilzen, die auf dem Mars wachsen sollen. Das ist faszinierend, keine Frage. Aber als Handwerksmeister, der mit beiden Beinen auf dem Boden steht, stelle ich mir ganz andere Fragen. Was kann dieses Material wirklich, hier bei uns? Auf einer ganz normalen deutschen Baustelle? Kann es mit Holz, Ziegel oder Beton auch nur ansatzweise mithalten? Ich wollte es genau wissen – nicht aus Büchern, sondern mit den eigenen Händen. Das hier ist also mein schonungsloser Bericht direkt von der Werkbank. Eine Analyse, was Myzel wirklich kann und wo seine Grenzen liegen.

Was ist dieses Myzel eigentlich? Kurz erklärt für Praktiker
Wenn wir im Wald einen Pilz sehen, dann ist das nur die Frucht. Das eigentliche Lebewesen ist ein gigantisches, feines Netzwerk unter der Erde. Und genau dieses Wurzelgeflecht aus unzähligen Fäden nennt man Myzel. Stell es dir vor wie die Wurzeln einer Pflanze, aber viel, viel feiner und dichter miteinander verwoben.
Im Grunde ist Myzel ein natürlicher Klebstoff, der von selbst wächst. Statt Holzspäne mit künstlichem Leim unter hohem Druck zu einer Spanplatte zu pressen, nutzen wir hier den Pilz selbst. Er wächst durch organische Materialien wie Sägespäne, Stroh oder Hanfreste und verbindet sie zu einem festen, erstaunlich leichten Verbundstoff. Das ist der Kern der ganzen Sache: Wir lassen die Natur für uns arbeiten, anstatt mit massivem Energieaufwand künstliche Materialien herzustellen.
Vom Sporen zum Bau-Block: Wie das Ganze wächst
Ein Bauteil aus Myzel entsteht nicht in einer lauten Fabrikhalle, sondern wächst in einer ruhigen, kontrollierten Umgebung. Der Prozess erfordert vor allem zwei Dinge: Geduld und absolute Sauberkeit. Wer hier schlampt, züchtet schnell Schimmel statt eines Baustoffs. Ich spreche da aus Erfahrung…

Mein erster Versuch endete nämlich in einer grün-grauen, muffig riechenden und völlig unbrauchbaren Masse. Warum? Wahrscheinlich war meine Sterilisation nicht gründlich genug. Eine kleine Lücke im Beutel oder eine zu kurze Zeit im Dampf, und schon übernehmen konkurrierende Schimmelsporen die Oberhand. Aber hey, aus solchen Fehlern lernt man am meisten.
So geht’s richtig:
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Das Substrat vorbereiten (Das Futter): Der Pilz braucht Nahrung. In meiner Werkstatt sind das natürlich Sägespäne – Fichte und Buche funktionieren super. Aber es geht auch mit gehäckseltem Stroh, Hanfschäben oder sogar altem Kaffeesatz. Je nachdem, was du nimmst, ändern sich später die Eigenschaften. Hanf ergibt zum Beispiel ein leichteres, besser dämmendes Material. Das Wichtigste ist aber die Sterilisation! Das Substrat muss komplett frei von fremden Keimen sein. Für meine Versuche packe ich das angefeuchtete Material in spezielle, hitzebeständige Filterbeutel und dämpfe sie für etwa 90 Minuten bei über 120 Grad im Topf – ganz ähnlich wie beim Einkochen von Marmelade.
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Das „Impfen“ mit der Pilzkultur: Nach dem Abkühlen wird das sterile Substrat mit der Pilzkultur, auch „Pilzbrut“ genannt, gemischt. Üblich sind schnell wachsende Arten wie der Austernseitling oder der Zunderschwamm. Als Faustregel kannst du etwa 5-10 % Pilzbrut bezogen auf das Trockengewicht deines Substrats nehmen. Das Ganze füllst du dann in die gewünschte Form – sei es ein einfacher Kasten für einen Ziegel oder eine komplexere Form für ein Akustikpanel.
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Die Wachstumsphase: Jetzt kommt die Magie. Die Form kommt an einen dunklen, warmen Ort, idealerweise bei 22 bis 25 Grad und einer hohen Luftfeuchtigkeit von über 85 %. Der Pilz atmet dabei CO2 aus, also ist eine leichte Belüftung wichtig. Je nach Größe des Teils dauert es fünf bis vierzehn Tage. In dieser Zeit siehst du förmlich, wie sich die weißen Myzelfäden durch das Substrat spinnen und alles zu einem festen Block verkleben. Der Geruch im Raum ist intensiv, aber angenehm erdig.
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Wachstum stoppen & trocknen: Sobald die Form komplett durchwachsen ist, muss der Prozess gestoppt werden. Sonst fängt der Pilz an, Fruchtkörper zu bilden (also Pilze, die wir essen). Du nimmst das Bauteil aus der Form und trocknest es bei niedriger Temperatur, so zwischen 60 und 80 Grad, im Ofen. Das tötet den Pilz ab und entzieht ihm die Feuchtigkeit. Absolut entscheidend! Ein feuchtes Myzel-Bauteil könnte in einer Wand wieder zum Leben erwachen. Die Trocknung macht es zu einem stabilen Werkstoff. Plane dafür je nach Dicke ruhig 12 bis 24 Stunden ein – es ist fertig, wenn es kein Gewicht mehr verliert. Danach fühlt es sich an wie eine Mischung aus Kork und Hartschaum: leicht, fest und warm.

Dein erstes Experiment: Ein Myzel-Block aus dem Eimer
Lust, das mal selbst auszuprobieren? Es ist einfacher, als es klingt. Hier ist eine kleine Anleitung für den Hobbykeller:
- Was du brauchst: Einen sauberen 5-Liter-Eimer mit Deckel, ca. 500g trockene Sägespäne oder Strohpellets, Wasser und natürlich die Pilzbrut. Die bekommst du online in spezialisierten Shops für Pilzzucht. Suche einfach nach „Pilzbrut Austernseitling“. So ein Beutel für den Start kostet meist zwischen 10€ und 20€ und reicht für mehrere Versuche.
- Vorbereitung: Bohre ein paar kleine Löcher (ca. 5 mm) in den Deckel des Eimers für den Gasaustausch. Gib die Sägespäne in den Eimer und übergieße sie mit kochendem Wasser, bis sie gut bedeckt sind. Deckel drauf und mehrere Stunden abkühlen lassen. Das ist eine simple Form der Pasteurisation, die für den Anfang oft ausreicht.
- Impfen: Wenn das Substrat nur noch handwarm ist, gieße überschüssiges Wasser ab. Das Substrat sollte feucht sein, aber nicht tropfnass. Zerbrösle die Pilzbrut mit sauberen Händen und mische sie gut unter die Späne im Eimer.
- Wachsen lassen: Deckel drauf und den Eimer bei Zimmertemperatur an einen dunklen Ort stellen. Nach etwa zwei bis drei Wochen sollte der Inhalt komplett von weißem Myzel durchwachsen sein.
- Ernten & Trocknen: Stürze den festen Block aus dem Eimer und trockne ihn wie oben beschrieben im Backofen. Fertig ist dein erster selbstgemachter Myzel-Block!

Der Realitäts-Check: Was kann der Pilz im Vergleich?
Ein neuer Werkstoff muss sich natürlich an dem messen lassen, was wir kennen. Also, Butter bei die Fische:
Druckfestigkeit? Eher mäßig. Ganz ehrlich: Für tragende Wände ist das nichts. Die Druckfestigkeit liegt irgendwo zwischen Hartschaum und Weichholz. Man kann damit keine Statik ersetzen. Aber für nicht-tragende Innenwände, als Füllmaterial im Holzrahmenbau oder eben als Dämmplatte ist die Festigkeit absolut ausreichend.
Wärmedämmung? Seine große Stärke! Hier punktet Myzel richtig. Durch die poröse Struktur wird viel Luft eingeschlossen, und Luft ist ein super Isolator. Der Lambda-Wert liegt je nach Herstellung bei etwa 0,05 bis 0,07 W/(m·K). Das ist zwar nicht ganz so gut wie Top-Dämmstoffe wie Polystyrol (EPS) mit ca. 0,035 W/(m·K), aber absolut im Bereich von guten Holzfaser-Dämmplatten. Der riesige Vorteil: Es wächst aus Abfall und ist am Ende komplett kompostierbar.
Brandschutz? Überraschend gut. Man sollte meinen, so ein trockenes, organisches Zeug brennt wie Zunder. Tut es aber nicht. Myzel-Werkstoffe sind von Natur aus schwer entflammbar. Das liegt am Chitin in den Zellwänden. Im Brandfall verkohlt die Oberfläche und bildet eine Schutzschicht, die das Feuer bremst. Tests zeigen, dass es die Anforderungen für gängige Baustoffklassen für „schwer entflammbare“ Materialien erreichen kann. Ein gewaltiger Pluspunkt gegenüber EPS-Dämmungen, die schmelzen und giftige Gase freisetzen können.

Feuchtigkeit? Die Achillesferse. Das ist der wunde Punkt. Myzel-Materialien nehmen Feuchtigkeit auf, ähnlich wie unbehandeltes Holz. Direkte Nässe ist tabu. Eine Außenanwendung ginge nur in einem gut hinterlüfteten System mit Wetterschutz. Im Innenbereich, etwa als Zwischensparrendämmung, ist es super, aber nur, wenn eine absolut fachgerecht verbaute Dampfbremse vorhanden ist. Da gibt es keine Kompromisse.
Schallschutz? Exzellent. Die offene, poröse Struktur, die gut für die Wärme ist, schluckt auch Schallwellen extrem effektiv. Das macht es zu einem idealen Material für Akustikpaneele in Büros, Tonstudios oder lauten Fluren. Hier gibt es auch schon einige kommerzielle Produkte, die richtig schick aussehen.
Bearbeitung und Kosten – Die Fragen aus der Praxis
Zwei Dinge, die mich als Handwerker sofort interessiert haben: Kann ich das Zeug bearbeiten und was kostet der Spaß am Ende?
Zur Bearbeitung: Ja, absolut! Ein trockener Myzel-Block lässt sich super bearbeiten. Man kann ihn mit einer normalen Holzsäge schneiden, man kann hineinbohren und ihn sogar schleifen. Es verhält sich ein bisschen wie dichter Kork oder sehr weiches Holz. Man kann es auch mit diffusionsoffenen Farben streichen, um die Oberfläche zu versiegeln und zu gestalten.
Und die Kosten? Das ist die knifflige Frage. Wenn ich es selbst mache, sind die Materialkosten minimal. Sägespäne sind Abfall, die Pilzbrut kostet wenige Euro, und die Energie zum Trocknen vielleicht nochmal ein, zwei Euro pro Block. Der größte Posten ist meine Arbeitszeit. Für den kommerziellen Einsatz schätze ich, dass eine Myzel-Dämmplatte, wenn sie mal in Serie gefertigt wird, preislich mit hochwertigen ökologischen Dämmstoffen wie Holzfaser oder Hanf konkurrieren könnte. Aktuell ist es aber noch ein Nischenprodukt.
Die Hürden für die Baustelle: Zertifizierung und Bürokratie
So, und jetzt kommt der Punkt, der jede Vision erdet: der deutsche Amtsschimmel. Wir können hierzulande nicht einfach verbauen, was wir wollen. Jeder Baustoff braucht eine Zulassung. Für ein Material wie Myzel, das noch in keiner Norm geregelt ist, bedeutet das eine „allgemeine bauaufsichtliche Zulassung“ (abZ). Dieser Prozess ist extrem langwierig und teuer. Das Material muss auf Herz und Nieren geprüft werden: Brandverhalten, Dauerhaftigkeit, Feuchteverhalten, Schadstoffemissionen … alles. Für ein junges Unternehmen ist das eine massive Hürde. Solange es diese Zulassung nicht gibt, darf ich als Meister so ein Produkt nicht offiziell verbauen, weil ich sonst in der Haftung bin.
Sicherheit geht vor: Was du beim Umgang beachten musst
Wir arbeiten hier mit lebenden Organismen, das erfordert Respekt und Vorsicht. Die Sorge vor Schimmel ist absolut berechtigt.
Während der Wachstumsphase können Pilze Sporen abgeben. Das Einatmen kann bei sensiblen Menschen Allergien auslösen. Wer professionell damit arbeitet, braucht Schutzausrüstung. Mindestens eine FFP2-Maske (besser FFP3), Handschuhe und eine gute Lüftung sind Pflicht. Das fertige, getrocknete Bauteil ist später im Haus völlig unbedenklich, aber die Herstellung hat ihre Risiken.
Und dann ist da noch die Kontamination. Wenn die Sterilisation nicht perfekt war, siedeln sich Fremdpilze an. Genau das ist mir bei meinem ersten Versuch passiert. Statt weißem Flaum hatte ich grüne und schwarze Flecken in der Masse. Das ist nicht nur unbrauchbar, sondern potenziell gesundheitsgefährdend und muss als Sondermüll entsorgt werden. Absolute Sauberkeit ist das A und O.
Fazit aus meiner Werkstatt: Ein Material mit Zukunft
Nach all den Experimenten und Recherchen bin ich weder euphorisch noch enttäuscht. Ich bin realistisch beeindruckt. Nein, Myzel wird Beton, Stahl oder Holz nicht ersetzen. Aber es hat absolut das Zeug dazu, unsere Palette an nachhaltigen Baustoffen sinnvoll zu ergänzen.
Die Stärken liegen ganz klar in der Dämmung, im Schallschutz und bei kreativen Anwendungen im Innenausbau. Es ist ein Material, das aus Abfall entsteht und wieder zu Erde wird. Dieser perfekte Kreislauf ist seine größte Stärke. Er zwingt uns, den Bauprozess neu zu denken – nicht als Verbrauch von Ressourcen, sondern als Teil eines biologischen Zyklus.
Der Weg von der Vision eines Pilz-Hauses bis zur zugelassenen Dämmplatte für ein deutsches Einfamilienhaus ist noch weit und steinig. Aber ich bin überzeugt, dass es sich lohnt, ihn zu gehen. In meiner Werkstatt wird es also auch in Zukunft nach Holz riechen. Aber der erdige Duft des Myzels wird bleiben. Als ein Versprechen, dass das Handwerk lebendig ist und immer wieder neue, alte Wege findet, um unsere Zukunft zu bauen.
