Ein Meisterstück am Rande der Zeit: Wie man das Unsichtbare fotografiert
In meiner Werkstatt arbeite ich mit Holz und Metall. Ich kenne die Gesetze der Statik und weiß, wie sich Materialien unter Druck verhalten. Jedes Werkstück, das ich fertige, folgt klaren Regeln. Präzision ist da keine Option, sondern eine Notwendigkeit. Als vor einiger Zeit das erste Bild eines Schwarzen Lochs um die Welt ging, sah ich da mehr als nur eine wissenschaftliche Sensation. Ich sah ein Meisterstück. Ein Werk, das auf genau den gleichen Prinzipien beruht, die ich jeden Tag anwende: ein tiefes Verständnis für das „Material“, die richtigen Werkzeuge und eine fast schon unvorstellbare Geduld.
Inhaltsverzeichnis
Dieses Bild von M87, einem Giganten im fernen Universum, ist keine einfache Fotografie. Es ist das Ergebnis jahrelanger Tüftelei von Hunderten von Experten weltweit. Sie haben nicht einfach ein riesiges Teleskop gebaut, nein, das wäre zu einfach gewesen. Sie haben unseren ganzen Planeten in ein einziges, gewaltiges Instrument verwandelt. Das ist Handwerk auf einer kosmischen Skala. Und um zu verstehen, was sie da geschaffen haben, müssen wir beim Fundament anfangen – bei der Physik, so wie ein Tischler das Holz verstehen muss, bevor er den ersten Schnitt macht.

Das Fundament: Was ist eigentlich ein Schwarzes Loch?
Stell dir mal ein großes Trampolin vor. Das ist unsere Raumzeit. Legst du eine kleine Kugel drauf, gibt es eine leichte Delle – das ist die Schwerkraft eines Planeten wie der Erde. Nimmst du jetzt eine schwere Bowlingkugel, wird die Delle viel tiefer. Alles, was in die Nähe rollt, fällt in diese Kuhle hinein. Das ist die Schwerkraft eines Sterns.
Ein Schwarzes Loch ist das absolute Extrem. Es ist, als würdest du eine unendlich schwere, winzig kleine Kugel auf das Trampolin legen. Die Delle wird so tief, dass sie das Tuch quasi durchstößt. Nichts, absolut nichts, was einmal über den Rand dieses Lochs gerät, kommt wieder heraus. Nicht einmal das Licht. Die Bauanleitung für dieses Phänomen lieferte eine geniale Theorie der Raumzeit schon vor über hundert Jahren.
Diesen Rand nennt man übrigens „Ereignishorizont“. Das ist der Punkt ohne Wiederkehr. Alles dahinter ist für uns unsichtbar. Daher auch der Name. Aber wie macht man ein Bild von etwas, das kein Licht aussendet? Ganz einfach: Man fotografiert seinen Schatten.

Um ein Schwarzes Loch herum sammelt sich nämlich oft eine riesige Scheibe aus glühend heißem Gas und Staub. Diese Materie wirbelt mit irrsinniger Geschwindigkeit um das Loch, wird durch die Reibung auf Milliarden von Grad erhitzt und leuchtet heller als eine ganze Galaxie. Und genau vor diesem hellen Hintergrund wirft das Schwarze Loch einen dunklen Schatten. Diesen Schatten haben die Profis vom Event Horizon Telescope (EHT) abgebildet.
Der Werkzeugkasten für ein kosmisches Projekt
Um so etwas zu schaffen, braucht man natürlich das richtige Werkzeug. Und der Werkzeugkasten des EHT-Teams ist wirklich beeindruckend.
- Das richtige „Auge“: Radiowellen statt Licht. Warum nicht einfach ein normales Teleskop nehmen? Nun, für manche Arbeiten brauchst du einen Hammer, für andere einen feinen Pinsel. Um durch die riesigen Wolken aus kosmischem Staub zu blicken, die zwischen uns und dem Galaxienzentrum liegen, ist sichtbares Licht ungeeignet – es wird einfach blockiert. Radiowellen hingegen dringen da problemlos durch. Sie sind das perfekte Werkzeug für diesen Job.
- Die ultrapräzise Wasserwaage: Atomuhren. Um viele kleine Teleskope auf der ganzen Welt zu einem einzigen großen zu verbinden, müssen alle Beobachtungen auf die Billionstelsekunde genau synchronisiert werden. Dafür hatte jede Station eine Atomuhr. Stell dir vor, du baust ein Möbelstück mit Kollegen auf verschiedenen Kontinenten – wenn die Zeitmessung auch nur minimal abweicht, passt am Ende nichts zusammen.
- Die Schubkarren für die Daten: Hunderte Festplatten. Die Datenmenge war so gigantisch, dass sie nicht über das Internet verschickt werden konnte. Wusstest du schon, dass es schneller war, die Festplatten einfach per Flugzeug zu den Rechenzentren in Deutschland und den USA zu fliegen? Das war Logistik vom Feinsten.
- Die Werkstatt: Supercomputer. Hier wurden die Daten von allen Standorten zusammengefügt. Störungen durch die Erdatmosphäre mussten herausgerechnet werden – stell dir vor, du versuchst, durch kabbeliges Wasser auf den Grund eines Sees zu blicken. Erst komplexe Algorithmen konnten aus all den Datenfetzen ein einziges, klares Bild rekonstruieren.

Zwei Aufträge: Das ruhige Biest und der zappelige Zwerg
Die Forscher hatten von Anfang an zwei „Werkstücke“ im Visier. Man könnte sagen, sie hatten zwei sehr unterschiedliche Aufträge auf dem Tisch liegen.
Der erste war M87. Ein supermassereiches Schwarzes Loch, unfassbare 55 Millionen Lichtjahre entfernt, mit der 6,5-milliardenfachen Masse unserer Sonne. Ein echtes Schwergewicht. Sein Schatten ist übrigens gigantisch – er würde unser gesamtes Sonnensystem locker bis über die Umlaufbahn von Neptun hinaus ausfüllen.
Der zweite Kandidat war Sagittarius A (kurz Sgr A), das Schwarze Loch im Zentrum unserer eigenen Milchstraße. Man sollte meinen, das wäre einfacher, es ist ja mit „nur“ 26.000 Lichtjahren quasi um die Ecke. Aber Sgr A ist ein Zwerg im Vergleich zu M87, mit nur etwa 4 Millionen Sonnenmassen. Weil es so viel kleiner ist, wirbelt die Materie viel schneller darum herum. Veränderungen, die bei M87 Wochen dauern, passieren bei Sgr A innerhalb von Minuten. Es ist, als würdest du ein ruhiges, riesiges Schiff fotografieren (M87) im Vergleich zu einem sich schnell drehenden Kinderkarussell (Sgr A).

Also eine strategische Entscheidung der Profis: Sie konzentrierten sich zuerst auf das ruhigere, wenn auch weiter entfernte Ziel. Der Erfolg gab ihnen recht und lieferte die Erfahrung, um sich später auch das zappelige Exemplar in unserer Nachbarschaft vorzunehmen.
Für den Hobby-Handwerker: M87 am Nachthimmel finden
Jetzt fragst du dich vielleicht: Kann ich das auch sehen? Naja, das Schwarze Loch natürlich nicht. Aber die Galaxie M87, in der es wohnt, kann man tatsächlich mit einem guten Amateur-Teleskop finden!
Kleiner Tipp: Am besten geht das im Frühling. Du musst nach dem Sternbild Jungfrau (Virgo) Ausschau halten. M87 erscheint darin als kleiner, nebliger Fleck. Du brauchst dafür schon ein ordentliches Gerät, idealerweise ein Spiegelteleskop mit mindestens 20 cm Öffnung. Solche Dobson-Teleskope gibt es für Einsteiger schon ab etwa 400-500€ bei spezialisierten Händlern oder auch mal gebraucht. Es ist ein unglaubliches Gefühl, in den Himmel zu schauen und zu wissen: Genau dort in diesem winzigen Lichtfleck befindet sich dieses kosmische Monster. Ein echtes Abenteuer für den Balkon!

Klartext: Was das Bild uns wirklich zeigt
Bei aller Begeisterung ist es wichtig, ehrlich zu bleiben. Das Bild ist keine Fotografie im klassischen Sinn. Die Farben sind nicht „echt“, sondern wurden hinzugefügt, um die unterschiedliche Intensität der Radiostrahlung sichtbar zu machen. Orange und Gelb bedeuten starke Strahlung, Rot und Schwarz schwächere. Das ist in der Wissenschaft völlig normal, um Daten zu visualisieren.
Was wir sehen, ist eine wissenschaftlich fundierte Rekonstruktion, die auf echten Messdaten basiert. Und sie ist eine beeindruckende Bestätigung für die große Theorie der Raumzeit. Die vorhergesagte Größe und Form des Schattens passten perfekt. Man sieht sogar, dass der Ring auf einer Seite heller ist. Das liegt daran, dass das Gas, das sich auf uns zu bewegt, durch den Doppler-Effekt heller erscheint. Passt alles!
Ach ja, und keine Sorge: Schwarze Löcher sind keine kosmischen Staubsauger. Ihre Schwerkraft ist zwar extrem, aber nur in unmittelbarer Nähe. Würde man unsere Sonne durch ein Schwarzes Loch mit exakt der gleichen Masse ersetzen, würden wir Planeten einfach weiter unsere Bahnen ziehen. Es würde nur sehr dunkel und kalt werden.
Die Veröffentlichung dieses Bildes war ein ruhiger Triumph der Geduld, der globalen Zusammenarbeit und der unermüdlichen Präzision. Es zeigt uns, was möglich ist, wenn wir gemeinsam anpacken. Ein wahres Meisterstück eben.
Lust auf mehr? Wenn dich das Thema jetzt richtig gepackt hat, such doch mal auf YouTube nach „Event Horizon Telescope erklärt“ – da gibt es fantastische Animationen, die das alles noch anschaulicher machen. Oder probier mal selbst die Relativitätstheorie aus: Spann ein T-Shirt, leg eine Orange in die Mitte und lass eine Murmel daran vorbeikullern. Siehst du die Kurve? Das ist die Raumzeit auf deinem Küchentisch!
Inspirationen und Ideen
- Eine Auflösung, die es ermöglicht, eine Orange auf der Mondoberfläche zu erkennen.
- Eine internationale Zusammenarbeit von über 200 Wissenschaftlern auf allen Kontinenten.
- Ein Datenvolumen, das dem von 5.000 Jahren MP3-Musik entspricht.
Das Geheimnis? Die Technik nennt sich Very Long Baseline Interferometry (VLBI). Dabei werden Teleskope auf der ganzen Welt zu einem einzigen virtuellen Observatorium von der Größe unseres Planeten zusammengeschaltet und ihre Daten exakt synchronisiert.
Ist das die tatsächliche Farbe eines Schwarzen Lochs?
Nicht ganz. Das Bild des Event Horizon Telescope (EHT) ist keine Fotografie im klassischen Sinn, sondern eine Visualisierung von Radiowellen. Die leuchtenden Orange- und Gelbtöne wurden gewählt, um die Intensität der Strahlung darzustellen: Je heller der Bereich, desto stärker und heißer das glühende Gas, das mit annähernder Lichtgeschwindigkeit um das Schwarze Loch wirbelt. Die dunkle Mitte ist der „Schatten“, den das Schwarze Loch auf diesen leuchtenden Hintergrund wirft.
„Es ist, als würde man von Berlin aus eine Zeitung in New York lesen wollen.“
So beschreiben die Wissenschaftler des EHT-Projekts die unfassbare Präzision ihres Instruments. Diese extreme Auflösung war notwendig, um den winzigen „Schatten“ des 55 Millionen Lichtjahre entfernten Schwarzen Lochs in der Galaxie M87 überhaupt sichtbar zu machen. Jeder kleine Fehler in der Synchronisation der Teleskope hätte das Bild unbrauchbar gemacht.
Event Horizon Telescope (EHT): Fängt langwellige Radiostrahlung auf, die Materie durchdringen kann. Ideal, um durch die Gas- und Staubwolken im Zentrum von Galaxien zu blicken und die unmittelbare Umgebung eines Schwarzen Lochs zu kartieren.
Hubble-Weltraumteleskop: Beobachtet hauptsächlich im sichtbaren und ultravioletten Licht. Perfekt für atemberaubende Bilder von fernen Galaxien und Nebeln, aber „blind“ für das, was direkt am Ereignishorizont geschieht.
Beide sind Meisterwerke der Technik, aber für völlig unterschiedliche Aufgaben konzipiert.
Hinter dem ikonischen Bild steht nicht nur eine Person, sondern ein globales Team. Eine Schlüsselrolle spielte dabei die Informatikerin Dr. Katie Bouman. Sie war maßgeblich an der Entwicklung eines der Algorithmen beteiligt, die die gigantischen Datenmengen der verschiedenen Teleskope zu einem einzigen, kohärenten Bild zusammensetzten. Ihre Arbeit symbolisiert den Übergang von der reinen Beobachtung zur computergestützten Bildrekonstruktion – eine neue Ära der Astronomie.
Wichtiger Punkt: Das Bild ist mehr als nur eine Sensation – es ist der ultimative Beweis für Albert Einsteins Allgemeine Relativitätstheorie. Vor über 100 Jahren hatte er die Existenz von Schwarzen Löchern und die exakte Größe und Form ihres Schattens vorhergesagt, ohne jemals eines gesehen zu haben. Die Beobachtungen des EHT passen perfekt zu seinen Gleichungen. Ein Triumph des menschlichen Geistes.
Nach dem Erfolg bei M87* richtete das EHT-Team seinen Blick auf ein noch spannenderes Ziel: Sagittarius A*, das supermassereiche Schwarze Loch im Zentrum unserer eigenen Milchstraße. Obwohl es uns viel näher ist, war die Abbildung eine noch größere Herausforderung.
- Das umkreisende Gas ist viel schneller und verändert seine Struktur innerhalb von Minuten.
- Wir blicken durch die dichten Staub- und Sternenwolken der galaktischen Ebene.
Das 2022 veröffentlichte Bild war daher ein weiterer Meilenstein, der ein dynamischeres und turbulenteres Objekt offenbarte.
Rund 5 Petabyte – das sind 5 Millionen Gigabyte – an Daten wurden für das erste Bild des Schwarzen Lochs gesammelt.
Das Netzwerk von Observatorien, die das Bild von M87* ermöglichten, umspannt den gesamten Globus. Einige der Schlüsselstandorte waren:
- Das Atacama Large Millimeter Array (ALMA) in der chilenischen Wüste.
- Das Submillimeter Telescope (SMT) in Arizona, USA.
- Das IRAM 30-Meter-Teleskop auf dem Pico Veleta in Spanien.
- Das South Pole Telescope (SPT) in der Antarktis.
Der Name M87* klingt technisch, hat aber eine einfache Herkunft. „M87“ steht für Messier 87, das 87. Objekt im berühmten Katalog nebelartiger Objekte des französischen Astronomen Charles Messier aus dem 18. Jahrhundert. Heute wissen wir, dass M87 eine riesige elliptische Galaxie im Sternbild Jungfrau ist. Der Stern (*) ist die astronomische Standardbezeichnung für ein supermassereiches Schwarzes Loch im Zentrum einer Galaxie.
